Kürzlich ist erstmals eine historische Gesamtdarstellung zur Entwicklung für die österreichische Elementarpädagogik in Buchform publiziert worden. Darin findet sich auch ein Abriss der Entstehung der institutionellen Kinderbetreuung in Europa. Diese gab es ab Ende des 18. Jahrhunderts, je nach Zielgruppe waren die Bedingungen jedoch sehr unterschiedlich. Bürgerliche Kinder durften Kindergärten als pädagogische Schutzräume besuchen – die Zeit damals festigte auch den bürgerlich-romantischen Kindheitsmythos, der das Kindheitsbild bis heute und Debatten darum prägt -, Arbeiter_innenkinder wurden hingegen in sogenannten Bewahranstalten untergebracht, wo sie zu brauchbaren Arbeitskräften erzogen werden sollten. Wir haben für euch einen Blick in das wissenschaftliche Werk geworfen.
von Cornelia
In Mitteleuropa ist die Elementarpädagogik untrennbar mit der Etablierung des Bürgertums verbunden, also mit der Entstehung des Bildes der (bürgerlichen) Familie und den entsprechenden Blick auf Kindheit. Ende des 18. Jahrhunderts rückte das Kind im frühen Alter immer mehr in den Fokus von philosophischen Überlegungen. Im geistigen Klima der Aufklärung stellte man die christliche Erbsündenlehre in Frage, das Kind wurde zu einem reinen, unschuldigen Wesen, das lernen und sich entwickeln sollte. Wichtigste philosophische Vorbilder der Aufklärungspädagogik waren Johann Comenius, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Letzterer wollte religiöse Dogmen aus der Erziehung verbannen und befand das private Haus bzw. die Familie als idealen Bildungsraum. Seine Ideen wurden in den bürgerlichen Kreisen Europas wohlwollend aufgenommen.
Die protestantische Kirche gründet indes nach Abschaffung des Zölibats Pfarrersfamilien als neues Erziehungsvorbild. Auch hier wurde die Mutter zur wichtigsten Erziehungsinstanz. In Österreich setzte sich die Reformation jedoch nur teilweise durch. Das Erziehungs- und Bildungswesen blieb in katholischer Hand – und da v.a. bei den Ordensgemeinschaften und Pfarren.
Zu dieser Zeit hatte sich der Lebensalltag vieler Menschen durch die Industrialisierung bereits verändert. Gut aufbereitet sind diese Prozesse nachzulesen in dem Buch Geschichte der Elementarpädagogik in Österreich (2019) der Historikerin Katharina Rösler und der noch vor Fertigstellung des Bandes verstorbenen Elementarpädagogik-Vorkämpferin Heidemarie Lex-Nalis. Die meisten Familien waren damals zum Überleben auf fremdbestimmte Arbeit angewiesen. Davor war die Erwerbsarbeit zuhause angesiedelt und durch saisonale oder auftragsbedingte Unregelmäßigkeit charakterisiert, nun verlagerte sich diese für Männer, Frauen und auch Kinder zunehmend in die Werkshallen. Wurden jüngere Kinder daheim von harter und langer Arbeit eher verschont, mussten sie in den Fabriken wie die Erwachsenen auch große Leistungen erbringen. In einer von Kindern betriebenen Manufaktur, die als Erziehungs- und Beschäftigungsanstalt gelabelt wurde, war für die 40 Buben im Alter zwischen 9 und 12 Jahren morgens um 6 Uhr Früh Arbeitsbeginn, Arbeitsende war um halb acht Uhr abends.

Kinderarbeiter, 1918 (gemeinfrei/Lewis Hine/Corbis/The New York Times-Fotoarchiv)
Um 1750 wurde Wien zur größten Stadt Mitteleuropas. Die fehlenden Perspektiven am Land trieb die Menschen zahlreich her. Frauen und Kinder fanden vorwiegend in der Wiener Textilerzeugung oder im Dienstleistungssektor Arbeitsmöglichkeiten. In Österreich sagt man Maria Theresia gemeinhin nach, eine Wohltäterin für Kinder gewesen zu sein. Allerdings weiß man heute, dass sie Industrielle dabei unterstützte, Waisenkinder zu beschäftigen. Freilich, das entsprach damals durchaus dem Zeitgeist. Kinder aus ökonomisch schwachen Familien sollten zu produktiven Arbeitskräften erzogen werden. (Erst im Jahr 1859 wurde ein generelles Arbeitsverbot für Unter-10-Jährige in Industriebetrieben sowie ein Nachtarbeitsverbot und ein Vereinbarkeitsgebot mit der Schule sowie die Verkürzung der Arbeitszeiten für Unter-16-Jährige erlassen.)
Langsam sickerte damals jene moralische Auffassung durch, dass jeder Mensch, sich dem Staat unterordnen und eine Funktion erfüllen müsse. Durch Reformen, mit denen ein Ausbau der Behörden und des Beamtenapparats einher gingen, brauchte es auch ein Umdenken in der Bildungspolitik. Schließlich mussten die zukünftigen Staatsdiener auch ausgebildet werden. 1774 wurde in Österreich schließlich die allgemeine Schulpflicht für beide Geschlechter eingeführt. Die Erziehung wurde zur Staatsangelegenheit. Weil das teilweise als zu große Einmischung empfunden wurde, blieb die Möglichkeit zum Hausunterricht bestehen.
Als die ersten Kinderbetreuungsstätten entstanden
In der bürgerlichen Kernfamilie musste nur der Mann für den Unterhalt sorgen. Die Frau kümmerte sich um den Haushalt und – angeregt durch die Ideen der Aufklärung – um die Kinder. Zum ersten Mal erhielten diese eigene Räume und Möbel zugeteilt. Doch der einst schützende Sozialraum des Großfamilienhaushalts ging im Zuge der Industrialisierung für proletarische Kinder nach und nach verloren. Die neuen Kleinfamilien waren arbeitsbedingt oft nicht in der Lage, ihren Nachwuchs gut zu betreuen. Als Folge wurden überall in Europa die ersten Einrichtungen für Kinder vor ihrem Eintritt in die Schule eröffnet.
In Frankreich befand Pfarrer Friedrich Oberlin, der gemeinsam mit seiner Haushälterin und späteren Kleinkinderschullehrerin Luise Scheppler das Schulwesen verbessern wollte, dass Mütter mangelnde Erziehungsfähigkeiten hätten. Als Konsequenz entstanden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogenannte Strickschulen, die einen klar definierten Bildungsauftrag hatten. Es gab Spracherziehung, Spiele, Gartenarbeit, Naturkunde, Buchstabenmalen, Turnen und vor allem eine Vorbereitung für spätere Tätigkeit in der Textilindustrie, die in der Region weit verbreitet war. Oberlin gilt als einer der Väter des Kindergartens. Die Lehrerinnen in den Strickschulen wurden “Führerinnen der zarten Jugend” genannt. Die Einrichtungen sollten später als Vorbild für die in Deutschland an der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert gegründeten Industrieschulen dienen.
In England errichtete der Frühsozialist und Begründer des Genossenschaftswesens, Robert Owen, die erste “Infant School”, in der von ihm geführten Baumwollfabrik. Er befürwortete die Erziehung von Kindern in Gemeinschaftseinrichtungen, die mit ausreichend Ressourcen (Essen, Kleidung, Räumlichkeiten usw.) ausgestattet sein sollten. Im Unterschied zur Situation in Frankreich bei Oberlin herrschte in Großbritannien zu der Zeit bereits ein relativ hoch entwickelter Industriekapitalismus – mit allen Folgen wie etwa der Kinderarbeit. Auch Owen traute den Eltern die Betreuung und Erziehung der Kinder nicht zu. Zum einen aufgrund mangelnder materieller Möglichkeiten, zum anderen aber auch aus deren vermeintlich fehlender Einsicht. Öffentliche Anstalten würden erzieherische Aufgaben weitaus besser erfüllen, so Owens Einstellung. In der “Infant School” standen Spiel, Gesang, Tanz, Geografie, Naturkunde und körperliche militärische Übungen am Tagesprogramm. Seine Vision von einer kollektiven Lebensform und der Erziehung von Kindern in Gemeinschaftseinrichtungen setzte er 1825 mit der Gründung der Siedlung “New Harmony” in Nordamerika um. In England blieben seine Konzepte unberücksichtigt – hier stellten die Einrichtungen die Bedürfnisse der Arbeitgeber in den Vordergrund (Stichwort: Arbeitsqualifizierung): Samuel Wilderspin errichtete etwa Kleinkindeinrichtungen mit schulischem Charakter. Seine Ideen fanden großen Anklang bei den Gründer_innen von “Bewahranstalten” in ganz Europa.
In Deutschland vertraten die Philanthropen in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Meinung, dass alle Kinder zu eigenem Denken und nützlichem Handeln erzogen werden müssten. Mit ihren pädagogischen Visionen wollten diese – u.a. Christian Heinrich Wolke, Joachim Heinrich Campe – vor allem das vorindustrielle Bürgertum erreichen. Während sich Campe ausschließlich an die Mütter wandte, plädierte Wolke für außerfamiliäre Einrichtungen. Er glaubte, dass Familien aus allen Schichten mit der Kindererziehung überfordert wären und verwendete als einer der ersten den Begriff “Bewahranstalt”. Diese waren ausgerichtet zwischen Sorge und Bildung, gedacht für Kinder drei, vier Jahre vor dem Eintritt in die Schule und sollten diese dafür vorbereiten.
1802 gründete Fürstin Pauline zu Lippe Detmold setzte Wolkes Ideen in der ersten Einrichtung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland um (ungeklärt ist, ob es evtl. 1732 solche Einrichtungen auch schon in der Herrnhuter Brüdergemeinde gegeben hat). Ihr Anliegen war es Müttern eine außerhäusliche Beschäftigung zu ermöglichen. In dem Buch wird sie wie folgt zitiert:
Manche Mutter muss die Kinder verlassen und lebt nun im Kampf zwischen Brotsorgen und Angst, wie es ihren armen Kindern gehen wird, während sie ferne ist. Manche betrachtet ihre Kinder als Bürde und Unglück.
Nach und nach entstanden in den folgenden Jahrzehnten vermehrt Spielschulen und Kleinkindschulen für Kinder aus den wohlhabenden Bevölkerungsschichten.
In den Niederlanden und in Belgien wurden nach dem Vorbild Oberlin und Wilderspin sogenannte Spielschulen für Kinder ab dem Laufalter errichtet. Sie lernten hier mit Altersgenossen buchstabieren, lesen und stricken, auch wenn das Spiel die Hauptbeschäftigung blieb. In Italien wurden ähnliche Einrichtungen “Kinderasyle” genannt.
Ein Engelsgarten auf Habsburger Boden
Im Gegensatz dazu wurde in Österreich die Bildung für Kinder im vorschulpflichtigen Alter auch nach Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht nicht als Aufgabe des Staates angesehen. Karitative Vereine, die Kirche und Wohltäter_innen aus der Adelsschicht oder dem wohlhabenden Bürgertum kontrollierten die “Bewahranstalten”. Die erste dieser Einrichtungen auf Habsburger Boden entstand im heutigen ersten Bezirk Budapests, gegründet von Gräfin Therese Brunsvik de Korompa unter dem Namen “Angyalkert” (“Engelsgarten”). Ihr Ziel war es, Kinder zwischen zwei und sechs Jahren auf den Grundlagen von Sittlichkeit und Frömmigkeit zu erziehen.
Eine wichtige Rolle spielte in Österreich Josef Ritter von Wertheimer, der armen und benachteiligten Kindern Pflege und Bildung zukommen lassen wollte. Er beantragte bei der Regierung den Bau entsprechender Einrichtungen – 32 Pfarrämter begutachteten diesen, lediglich zwei befanden das Anliegen für die eigene Pfarre als sinnvoll. So wurde schließlich 1830 am Rennweg die erste Kinderbewahranstalt der Stadt Wien eröffnet.
Einen Einschnitt gab es mit dem Ersten Weltkrieg, währenddessen Kriegskindergärten als Notlösung – die Mütter arbeiteten in der Kriegswirtschaft – entstanden. Später verdoppelte sich die Zahl der Einrichtungen rasch. Während die Kinder am Land wie heute noch vielerorts lediglich halbtags betreut wurden, hatten die städtischen Kindergärten im “Roten Wien” bereits von 7 bis 18 Uhr geöffnet.
Während der NS-Zeit sollten alle Kindergärten in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eingegliedert werden. Eine völlige Gleichschaltung gelang allerdings nicht. Im Vordergrund stand nicht die Wissensvermittlung, sondern das Wecken einer kämpferischen Einsatzbereitschaft bei den Kindern. Ein Bestseller war damals ein Erziehungsratgeber der Ärztin Johanna Harrer. Sie empfiehlt darin, die Kinder möglichst früh schon an die Härten des Lebens zu gewöhnen. Ihr Werk prägte die Eltern-Kind-Beziehung im deutschsprachigen Raum über Jahrzehnte (Warum Hitler bis heute die Erziehung von Kindern beeinflusst).

Kindergartenkinder im Spiel, Henningsleben, 1961. (Bundesarchiv Bild)
In den 1950er-Jahren bekamen Kindergärten schließlich eine fürsorgliche Funktion. Ab den 1960er-Jahren wurden sie zu einer Bildungseinrichtung umgewandelt – von der österreichischen Regierung als solche anerkannt wurden Kindergärten allerdings erst im Jahr 2008. Noch bis in die 1970er-Jahre waren Disziplin und Gehorsam oberstes Bildungsziel. So mussten Kinder oft eine Stunde am Topferl sitzen bleiben und weinende Kinder durften nicht getragen werden.
Als Gegenbewegung entstanden damals antiautoritäre Kinderläden und elternverwaltete Kindergruppen. Als eine selbstverständliche familienergänzende Einrichtung etablierten sich Kindergärten in Österreich schließlich ab den 1980er-Jahren.
Heidemarie Lex-Nalis/Katharina Rösler (2019). Geschichte der Elementarpädagogik in Österreich. Beltz-Juventa.
Beitragsbild (oben): Kinderarbeiterin, 1908, gemeinfrei/Lewis W. Hine for the National Child Labor Committee