Über den Zustand der Geburtshilfe in Deutschland zwischen struktureller Gewalt und „Luxus“. Eine patriarchatskritische Abrechnung.
ein Kommentar von Louisa Kamrath
Die Geburtshilfe in Deutschland ist in einem bemerkenswert schlechten Zustand. Soweit erstmal nichts Neues. Auf die Forderung nach einer 1:1 Betreuung unter der Geburt ließ Volker Heinecke, Landesvize vom Berufsverband der Frauenärzte Baden-Württemberg, vor einiger Zeit den Satz fallen: „Das ist ein Luxus, den sich die Krankenhäuser schlicht nicht leisten können“. So sehr diese Aussage einer inneren Logik folgen mag, eine 1:1 Betreuung als „Luxus“ zu bezeichnen, ist so anmaßend wie paradigmatisch für den Umgang mit Geburtshilfe in diesem Land. Denn bloß, weil Betreuung nicht finanziert wird, heißt es nicht, dass sie nicht gebraucht wird. Als niedergelassener Gynäkologe, sollte er die Bedürfnisse von Schwangeren kennen, statt in die gleiche Kerbe zu schlagen und das kollektive Trauma zu reproduzieren. Denn während ältere Herren in Bezug auf Geburtshilfe von ökonomischen Notwendigkeiten [1] dozieren, offenbart sich mir hierin vor allem eines: Jahrhundertealte Misogynie und Gleichgültigkeit gegenüber struktureller Gewalt gegen den als weiblich gelesenen Körper. Aber Eines nach dem Anderen.
Zahlen und Fakten rund um die Geburtshilfe in Deutschland
Zum Zustand der Geburtshilfe vorweg ein paar Zahlen und Fakten. Die lassen sich online bei dem Verein Mother Hood e.V. prima nachlesen. Konkret sieht es nämlich so aus:
- Auf dem Land und in einigen Großstädten herrscht eine Unterversorgung an Hebammen und
Geburtshelfer für Schwangerenversorgung und Wochenbett. Das heißt, dass nur noch jede
zweite schwangere Person überhaupt eine Hebamme findet. - Viele Geburtskliniken sind unterbesetzt. Auf zu viele Gebärende kommen zu wenig
Hebammen, um sie während der Geburt zu begleiten. Teilweise müssen Hebammen deshalb
drei oder mehr Geburten gleichzeitig betreuen. 2017 mussten 35% aller Kliniken
Schwangere unter der Geburt wegen Überlastung abweisen. - Da sie nicht wirtschaftlich arbeiten können schließen viele Geburtskliniken. Das bedeutet
verlängerte Fahrtzeiten unter der Geburt von bis zu 45 Minuten. - Da viele freiberufliche Hebammen wegen der exorbitanten Versicherungssummen ihren
Beruf aufgeben mussten (jede sechste seit 2009), übersteigt die Nachfrage an Haus-,
Geburtshaus-, oder Beleggeburten bei weitem das Angebot. Eine freie Wahl des
Geburtsortes ist somit nicht gegeben. - Anders als Betreuungsleistungen sind medizinische Interventionen abrechenbar. Eine
interventionsfreie Geburt stellt einen Verlust für die Klinik dar.
Um zu verstehen, was diese Umstände bedeuten, macht es Sinn, sich nochmal vor Augen zu führen,
was Gebären eigentlich ist.
Die gute Geburt und Distress
Gebären ist in erster Linie ein physiologischer Prozess, dessen Verlauf sehr eng an die psychische und körperliche Verfassung der Gebärenden gekoppelt ist. Dabei spielen sowohl das Setting in dem
die Geburt stattfindet, als auch die Betreuung während der Schwangerschaft und im weiteren
Wochenbett eine entscheidende Rolle. Denn Komplikationen, die unter der Geburt auftauchen
können, sind in der Regel bei angemessener Schwangerschaftsbegleitung vorher absehbar.
Zugleich ist das größte Hindernis für den Verlauf einer Geburt mütterlicher*/elterlicher Stress, vor allem
Angst. Was dann im Fachjargon Distress heißt, ist eine körperliche oder psychische Überlastung des
mütterlichen*/elterlichen Organismus. Auf diesen wird als Anpassungsreaktion die Blutzufuhr zu
lebenswichtigen Organen erhöht und zu allen anderen, also auch der Gebärmutter, gedrosselt.
Selbstredend ist dies einer Geburt nicht zuträglich und kann in der Konsequenz eine Gefahr für den
Fetus darstellen. Ganz konkret bedeutet also, dass Stress, Angst und Unsicherheit tatsächliche und
nicht nur gefühlte Geburtshindernisse sind. Ein Wissen, das jede Hebamme und jeder Geburtshelfer
haben.
Distress kann in einem angstfreien, ruhigen und zugewandten Umfeld während der Geburt und
durch eine aufmerksame Schwangerschaftsbetreuung vermieden werden. Die empfundenen und die
körperlich messbaren Indikatoren von mütterlichem*/elterlichem Stress liegen damit näher aneinander, als
landläufig angenommen. Das heißt, dass eine Geburt in der Regel dann gut und sicher verläuft,
wenn die Gebärende sich geschützt, unterstützt und ihren Bedürfnissen entsprechend
versorgt fühlt.
Gleiches gilt für die Wochenbettbetreuung durch eine Hebamme, die ja in erster Linie eine
vorbeugende Maßnahme ist. Sie gibt jungen Eltern Sicherheit und kann im Notfall frühzeitig
eingreifen. Sei es bei Anpassungsstörungen des Säuglings oder bei körperlichen und psychischen
Auffälligkeiten der Mutter*/des Elters. Die Prognose bei dem Krankheitsverlauf einer Wochenbettdepression [2] ist beispielsweise umso besser, je schneller diese erkannt wird.
Wie verhält sich dieses Wissen zu der Realität der Geburtshilfe, wie wir sie heute erfahren?
Nachtigall, ick hör dir trapsen.
Konsequenzen der Unterversorgung
Ruhe, Geduld, Zuwendung und bedingungslose Akzeptanz gehören nicht gerade zu den Merkmalen
unserer nach ökonomischen Maßstäben ausgerichteten Leistungsgesellschaft. Der Deutsche
Hebammenverband e.V. äußert selbst, dass „geburtshilfliche Abteilungen in strukturschwachen
Regionen nicht wirtschaftlich zu führen“ sind. Und damit geht das Schließen der Geburtsstationen munter weiter. Aber nochmal zum Mitschreiben: Das Ereignis Geburt entzieht sich der Logik ökonomischer Verwertungsprozesse.
Wenn also weder die freie Wahl des Geburtsortes, noch die Versorgung der Gebärenden durch eine Hebamme gewährleistet sind, werden Schwangere, Gebärende und Wöchner*innen Stress ausgesetzt, der vermeidbar wäre. Als Folge dessen wird eine geburtsmedizinische Kaskade in Gang gesetzt, die vermehrte Interventionen in Geburtsverläufe, steigenden Kaiserschnittzahlen und als traumatisch empfundene Geburten nach sich zieht.
Um hier nicht falsch verstanden zu werden, eines noch dazu: Medizinische Interventionen in Geburtsverläufe, in denen Fetus oder Gebärende wirklich gefährdet sind, sind ein Segen.
Kaiserschnitte können Leben retten. Und eine so niedrige Säuglings- und Mütter*/Elternsterblichkeit, wie wir sie hier und heute haben, sind ein großes Privileg. Es ist aber ein Irrglaube, dafür das Wahnsinnsbrimborium der medizinischen Geburtshilfe verantwortlich zu machen. Die niedrigen Sterblichkeitsraten beruhen vor allem auf auf den hygienischen und sozialen Errungenschaften der letzten 100 Jahre. Denn von den mittlerweile über 30% der Kinder, die heute (Stand: 2018) mit Kaiserschnitten geholt werden, gelten überhaupt nur 1% bei entsprechender Betreuung als medizinisch indiziert [3]. Dass sehr viel mehr Kaiserschnitte notwendig werden, liegt vor allem daran, dass eine Kaskade an unnötigen medizinischen Interventionen, einmal in Gang gesetzt, einen dramatischen Geburtsverlauf geradezu provozieren.
Mit diesem Wissen untätig zu bleiben und die Situation der Hebammen und Geburtskliniken weiter
zu prekarisieren, ist nichts anderes als strukturelle Gewalt eines ganzen Gesundheitsapparates
gegenüber Gebärenden und Hebammen.
Strukturelle Gewalt bedeutet, dass es für Gewaltförmigkeit keinen spezifischen Täter gibt, sondern,
dass sie staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen inhärent ist. Dabei handelt es sich um
vermeidbare Beeinträchtigungen von grundlegenden Bedürfnissen durch bestehende Werte,
Normen, Institutionen, Diskurse und Machtverhältnisse. Wenn gutes und sicheres Gebären auf
Grund von politischen und gesellschaftlichen Strukturen nicht möglich ist, zählt dies unter
strukturelle Gewalt.
Geburtshilfe 2018: Zwischen Ohnmacht und struktureller Gewalt
Es braucht nicht einmal die Auseinandersetzung mit vielen äußerst kruden Maßnahmen der
klinischen Geburtshilfe, die eigentlich seit dem Mittelalter verbannt gehören, aber leider noch
immer Alltag sind, um von Gewalt zu sprechen. Hierzu zählen vaginale Untersuchungen ohne
vorherige Erlaubnis der Gebärenden*, prophylaktische Dammschnitte, bevorzugtes Gebären in
Rückenlage, Abnabeln vor Auspulsieren der Nabelschnur, terminbedingte Geburtseinleitungen, die
oben genannten Kaiserschnittzahlen und so weiter.
Dass all diese Methoden gewaltvoll sind, indem sie in die Unversehrtheit der Person physisch und
psychisch massiv eingreifen, brauche ich hier wohl kaum betonen. Aber die Machtmechanismen,
die momentan auf die Geburtshilfe wirken, machen viele dieser Maßnahmen erst möglich. Denn
eine Hebamme oder Ärzt*in, die mehrere Geburten gleichzeitig betreut, hat weder die emotionalen
noch die zeitlichen Kapazitäten den natürlichen Geburtsvorgang angemessen zu begleiten. In dieser
Logik sind medizinische Interventionen unvermeidbare Abkürzungen. Und das ist ein Problem, das strukturell verankert ist.
An dieser Stelle möchte ich nochmal darauf hinweisen, dass auch ein Wunschkaiserschnitt, ebenso
wie der Wunsch nach Schmerzmitteln ein feministisches Anliegen sein kann. Denn schlussendlich
geht es um Selbstbestimmung. Diese Wünsche sollen hier nicht bewertet werden, sondern aufzeigen
welche Machtmechanismen wirksam werden, die Gebären weniger zu einem selbstbestimmten Akt,
als einem der strukturellen Unterdrückung machen.
Das Grausame an dem momentanen Zustand der Geburtshilfe ist, dass er Gebärende und
Partner*innen in eine Passivität zwingt, die positives Geburtserleben eher zur Ausnahme, denn zur
Regel macht. Aus diesem Empfinden von Passivität, Ausgeliefertsein und fehlender
Selbstwirksamkeit erwachsen Traumata.
Passivität und Kontrolle: Die Inquisition lässt grüßen
Nun also die große Frage: Wie kann es sein, dass in einer reichen Industrienation, wie der unseren,
eine derartige Unterversorgung und Verschlechterung der Geburtshilfe, die mit all ihren Folgen
vermeidbar wäre, kaum nennbaren politische Konsequenzen hat?
Ist es womöglich so, dass sich hier ein jahrhundertealter Machtmechanismus offenbart, der sein
Kapital aus der Kontrollierbarkeit des als weiblich gelesenen Körpers schlägt? Ich glaube schon.
Denn die Unterfinanzierung und Abwertung der Hebammenarbeit knüpft nahtlos an die Geschichte
der patriarchalen Gewalt gegenüber dem als weiblich gelesenen Körper an.
Dieser misogyne Blick ist nun wirklich nichts Neues, sondern lässt sich bis zum Katholizismus der
frühen Neuzeit zurückführen. Was als Hexenverfolgung seinen Anfang nimmt, übergibt die
Geburtshilfe mit der Erfindung des Buchdrucks (aka – Lesen und Wissenschaft als „Männersache“)
aus der Hand von Hebammen in die der Wundärzte und Chirurgen. Mit dem mechanistischen Weltund
Körperbild der Aufklärung wird Geburtshilfe also sukzessive zu Geburtsmedizin erhoben und
das heißt unterm Strich: „Subordination der Frau[*], gleichgültig ob als Hebamme oder
Gebärende.“
Es ist genau jene Subordination und Kontrolle allen als weiblich gelesenen, wie es das Patriarchat in
vielerlei Ausprägungen historisch hervorgebracht hat. Dass sich gerade in dem Gebiet der
Geburtshilfe supressive Strukturen die Hand geben, ist insoweit nicht überraschend, als dass (wer
eine Geburt (mit)erlebt hat, weiß Bescheid), sich in kaum einem anderen Moment des Lebens die
Kraft des weiblich gelesenen Körpers derart explosiv offenbart.
Ein besonders cleverer Schachzug dabei ist die Verantwortung für schwierige bis traumatische
Geburtsverläufe genau jenen Personen zuzuschachern, die darunter am meisten leiden. Die Frauen*,
die es dann nicht „richtig hinbekommen“ haben, was Frauen* doch schon seit Jahrmillionen
„gaaanz natürlich“ machen. Als Teil eines patriarchalen Systems in dem wir alle aufgewachsen sind,
haben die meisten von uns dieses Denken so weit internalisiert, als dass viele Betroffene nach
traumatischen Geburten tatsächlich Schuldgefühle plagen. Das ist ein ganz mieser Mechanismus
und der hat einen Namen: Victim blaming, zu deutsch: Täter-Opfer-Umkehr. Dahinter verbirgt sich die gleiche Methode, die weiblich gelesene Menschen vor ein paar hundert
Jahren noch in ein Korsett geschnürt hat, ihre Jungfräulichkeit zur Ware machte, ihnen bis heute
noch ihr Begehren abspricht, ihnen weismacht, die „Fähigkeit“ unbezahlte Carearbeit zu
übernehmen, sei quasi in ihren Körper eingeschrieben oder Vergewaltigungen mit bestimmter
Kleidung legitimiert.
Es geht unterm Strich um nichts anderes als der Einschränkung der weiblichen* Autonomie zur Kontrolle und Ausbeutung.
Selbstbestimmtes Gebären als individualistisches statt als politisches Projekt?
Für die Wenigsten dürfte das, was ich oben beschrieben habe besonders neu klingen.
Zivilgesellschaftlich hat es in den letzten Jahren viel Protest gegeben. Das Engagement der Eltern,
Hebammen und Gynäkolog*innen, die seit Jahren für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in
der Geburtshilfe eintreten, ist bemerkenswert. Aber politisch tut sich nicht viel. Das wird vermutlich
seine Ursache mit darin haben, dass die oben benannten misogynen Machtstrukturen in der
Tagespolitik ganz vorne mit dabei sind. Aber wie weiter?
Sollen wir schwangeren Freund*innen dazu zu raten, möglichst schnell noch die letzten
verfügbaren Hebammen zu „kriegen“, bevor sie eine andere schwangere Person bekommt? Möglichst
schnell die Anmeldung im Wunschkrankenhaus oder Geburtshaus zu machen, bevor die Plätze alle
weg sind? Und was ist mit den Schwangeren in Regionen, in denen es schlichtweg keine
angemessene Versorgung mehr gibt; sollen wir bei ihnen Alleingeburten supporten, weil
Hebammen, die Hausgeburten begleiten, leider nicht mehr arbeiten können?
Wohl kaum. Und gleichzeitig scheint es, als bleibe nichts anderes übrig. Aber Geburt zu einem
Konkurrenzkampf nach Prinzip des liberalen Wettbewerbs zu machen führt, wie schon erwähnt, zu
nichts. Ich muss sagen, ich bin etwas ratlos.
In diesem Sinne: Eine 1:1 Betreuung unter der Geburt ist niemals „Luxus“, sondern dem
Ereignis Geburt angemessen. Die Geburt stellt eine sehr verwundbare Stelle in einer
misogynen Gesellschaft dar, in der alles nach Verwertbarkeit hierarchisiert wird. Sie zu
schützen muss ein (queer)feministisches Anliegen erster Ordnung werden, denn es geht hier
um nichts anderes als die Autonomie des als weiblich gelesenen Körpers gegenüber
patriarchaler Gewalt.
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[1] Dies ist übrigens das gleiche Argument, dass auch die Ausbeutung und Unterdrückung von Arbeiter*innen, People of Color, queeren Menschen und Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen legitimiert.
[2] Eine Wochenbettdepression oder postpartalen Depression ist eine Sonderform der depressiven Störungen, die in den ersten Wochen bis 24 Monate nach der Geburt auftreten kann. Sie betrifft 10-20% aller Eltern. Ursächlich dafür ist zum Einen die rasche hormonelle Umstellung nach der Geburt. Zum Anderen gelten psychische Vorerkrankungender Gebärenden, psychische Erkrankungen im familiären Umfeld, Traumata und belastende Lebenssituationen als Risikofaktoren. (Rockenschaub, Facultas, 2005.)
[3] Rockenschaub, Facultas, 2005, S. 76.
Danke für den guten, wichtigen Artikel. Es fühlt sich so frustrierend and, in der Geburtshilfe so rückwärts zu gehen Und sich der strukturellen Gewalt in diesem Gebiet anzupassen oder sogar zu glauben sie sei etwas selbstbestimmtes, selbstgewolltes, oder zu unserer Unterstützung da.
Die Konsequenzen sind unermesslich und das Trauma so weitreichend für alle Beteiligten, die Gebärende Person, das Baby und die Unterstützung.
Ich helfe zur Zeit einer Organisation, die in diesem Gebiet Veränderung bewirkt. Deren Leitsatz ist, „Gentle Births Heal Mother Earth“ und „Healing the Earth, one Birth at a Time“.
[…] umstandlos schreibt Louisa Kamrath über die Geburtshilfe in Deutschland. Nichts Neues, wenn eine sich schon mal mit dem Thema beschäftigt hat, dafür gut […]