Das große Danach. Weiterkleben mit Blättern, die nicht zueinanderpassen.

Muttermythen

In diesem sehr poetischen und sanften Text erzählt umstandslos-Autorin Pitz vom Weitermachen nach dem Tod ihrer Mutter im eigenen (anderen) Mutter-Sein.
von Pitz
Dieser Text wird persönlich. Sorry.
Es beginnt mit dem Ende. Manchmal endet etwas, und du denkst: So. Das war es jetzt also. Von Zeit zu Zeit geht ein Leben zu Ende. Dann legt sich eine Stille über das Bett und bis zur Tür und rollt wie ein nasser Teppich die Treppe herab. Alles trübt sich, die Elstern vor dem Fenster sterben, egal ob September oder Dezember oder Februar, und der Stillstand umfasst und durchdringt dich. Risse tun sich auf, die nicht nur das Gewohnte von dir abrücken, nein, sie bewegen dich plötzlich in eine Ecke, die du noch nicht kennst. Was vorher dein Beet war, dein Feld, stellt sich plötzlich als Erdscholle mit bröckeligen Rändern heraus, auf der du ganz alleine stehst. – Dann aber wird jemand durstig, und du musst dich darum kümmern, dabei merkst du, dass du dir die Füße wundgestanden hast, und mit diesen ersten Regungen geht das weitere Leben los, ihr blickt euch über den Zaun hinweg an, du und dieses weitere Leben, und es fällt dir schwer, es ihm nicht krumm zu nehmen, all dieses reghafte Herumgelebe der anderen.
Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ihren kleinen Nachlass gesichtet und auf Tauglichkeit geprüft. Es erfüllt mich bis heute mit Ärger, Scham und Bitternis, dass ich vieles, das meiste, aussortieren musste, um so weiterleben zu können, wie es mir passt und wie ich es für vernünftig halte. Manche Erbteile hätte ich gerne stillschweigend übernommen – alleine, ich konnte nicht mit ihnen.
Wen verrät man dann lieber, die eigenen Maximen oder das matriarchal vermittelte Über-Ich?
Um diese Vereinbarkeit ist es mir ewig schade, und sie ist – für mich – viel dramatischer als das andere große Vereinbarkeitsproblem, ihr wisst schon. Nur: Ich habe beschlossen, mich nicht zum Klageweib meines eigenen Mutterungemachs zu machen. Finde ich es bedauernswert, eine gestresste Mutter gehabt zu haben, mit der man nachmittags nicht gemütlich sein konnte? Mache ich’s mir eben nachmittags selbst mit der Familie gemütlich. Finde ich, dass sie ihr Scheitern verschleiert hat, das alltägliche und das große, und sich dieses Scheitern im Stillen zu Katastrophen auswuchs, leider ohne kathartische Reinigung – ein Verhalten, das für mich untauglich war und in der Nachahmung durch mich alle von mir abstieß, ganz zu Recht? Scheitere ich eben öffentlich und ganz transparent. Erfolge sind keine Selbstverständlichkeiten, bei jedem Gelingen nenne ich den Preis. Glanz kostet.
Hat mich die einzige Weisheit, mit der ich von mütterlicher Seite aufgeklärt wurde: Ich solle auf meinen Ruf achten, unterwältigt und verletzt? Dann werde ich verstehen, warum das so lief und das Ganze selbst anders machen. Fand ich den Satz: „Was sollen die anderen denken!“ schameinflößend und lähmend? („Was sollen denn da die anderen denken?“ – Petrificus totalus! Momente der Selbsterkenntnis mit dem Charme einer Wurzelkanalbehandlung. Später der Schock: Die anderen denken sowieso!)
Na, dann gebe ich den anderen was zu denken.
Kleidungswahl, Wohnungszustand, Haare, Texte, Lebenslauf, Fotografien, Geschenke, schwierige Erbstücke, Fehler, alles gebe ich zu denken! Lieber stopfe ich die ganze Welt damit zu, als in dieser unsäglichen, erlernten Existenzscham zu verharren und sie an die nächste Generation zu vermitteln. Das reicht aus, reichlich, um alles darin zu fassen: den eigenen Standpunkt, die alten Geschichten, die, die man liebt, die, die man trotzdem liebt. Was am Weitermachen gehindert hat, darf abwesend sein, doppelt: in meinem Fall ganz wörtlich, durch den Tod, und durch meine Umkehrung dessen, was nicht ins Leben passt. In ihrer lauten Abwesenheit sind die Toten anwesend, auf Distanz gehalten, wie die Ringe um einen Planeten. Vielleicht klingt das alles ganz banal – dafür macht es aber viel Arbeit, auch weiterhin.


Beitrag erschienen in: weiter.machen
Beitragsbild: Hugo Simberg (Garden of Death)

2 Replies to “Das große Danach. Weiterkleben mit Blättern, die nicht zueinanderpassen.”

  1. madameflamusse sagt:

    wow, ein Hammertext, der mich im innersten gepackt hat, und eine wundervolle Sprache, Dankeschön

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