In dem heutigen Text geht es um Selfcare mit Sex. Unsere anonyme Autorin denkt darin über ihr eigenes Sexleben nach der Trennung vom langjährigen Partner und dem damit einhergehenden Verlust von Vertrautheit und Intimität nach. Sie schreibt von der eigenen emotionalen Abhängigkeit, der Liebe zum Nägel-Lackieren und darüber, sich den Körper nach Gewalterfahrungen im Tinder-Reigen wieder anzueignen.
von anonym
Ich kenne Sex in so vielen Facetten und gerade in diesem Moment bin ich einfach nur traurig. Traurig, dass ich nicht mehr mit dem Vater meines Kindes zusammen bin und die Vertrautheit und Intimität, die so manches Elternpaar sich über die Jahre hinweg erarbeitet, mit ihm erleben kann. Klar, romantische Liebe und Monogamie sind ein historisches Konstrukt. Die Scheidungsrate liegt bei 50 Prozent. Trotzdem, ich weiß von der Existenz dieser Elternpaare und ich beneide sie. Denn wir waren sexuell perfekt. Perfekt im Sinne von Vertrautheit, keine Geheimnisse, keine Scham, keine Stelle an unseren Körpern, die wir nicht wertgeschätzt und geliebt hätten. Unser Sex war von Anfang an ein Feuerwerk. Es gab so viel Raum auszuprobieren und so viel Raum zu heilen. Es gab Zeiten zum Kuscheln, es gab Zeiten für keine Lust, es gab Zeiten für unglaublich langsamen intensiven einfühlsamen Sex, es gab Zeiten von wildfließenden Körperflüssigkeiten aller Art. Wenn uns auf anderen Ebenen die Worte fehlten, sexuell sprudelte unsere Kommunikation nur so dahin. Das ist vorbei. Mein Safe Space ist dahin. Und aufgrund der anhaltenden Differenzen wird die Aussicht auf ein Anknüpfen auch immer verschwommener.
Mit der Geburt kamen Demütigungen aus einer vergangenen Partnerschaft hoch
Es gibt mehrere Bindungsmuster. Meines ist ambivalent. Ich neige dazu, mich an jeden Menschen, der netter ist als der vorherige zu klammern. Ich brauche die Nähe, ich brauche das Gefühl, etwas wert zu sein. Offensichtlich trage ich diesen Wert nicht von klein auf in mir. Das macht mich emotional abhängig und treibt mich in Beziehungen, die mir nicht gut tun. In denen bleibe ich allerdings jahrelang. Wegen der Abhängigkeit, wegen des Wunsches, es doch irgendwie hinbekommen zu können. Nicht weil ich an Monogamie glauben würde. Fünfzehn Jahre war ich durchgehend in Beziehungen oder ähnlichen Konstellationen. Sex spielte immer eine wichtige Rolle dabei.
Bei der ersten langen Beziehung merkte ich aufgrund meines fehlenden Grenzenbewusstseins aber nicht, dass mein Partner diese Grenzen laufend überschritt und ich aus Angst ihn zu verletzten, ständig über meine Bedürfnisse hinwegagierte. Das machte sich bemerkbar mit der Geburt meines Kindes. Die Demütigungen kamen wieder hoch. Die Panik, die Angst, die Traurigkeit darüber, nicht dafür geliebt zu werden, wer ich bin, sondern dafür, was ich tue bzw. zulasse. Mit dem Vater meines Kindes war das nie ein Thema. Er hatte selbst sexualisierte Gewalt erlebt. Vielleicht waren uns deshalb unsere Körper so heilig.
Als Single plötzlich wieder ohne Safe Space
Nun als Single stehe ich vor der Herausforderung, ohne meinen Safe Space auszukommen. Im Aufarbeiten meiner emotionalen Abhängigkeit nehme ich mir erstmals ein Buch einer Freundin zur Hand, das seit Jahren in meinem Bücherregal schlummert: “What you really really want. The smart girl’s shame-free guide to sex and safety“ von Jacelyn Friedman. Eigentlich dachte ich, meinen Körper hätte ich mir schon rückangeeignet. Doch dann fällt mir auf, dass ich einen Brocken Schuld und Scham auf meinen Schultern trage – familiär bedingt. Schuldgefühle dafür, dass ich über eine Sexualität verfüge. WTF? Ich bemerke, dass ich Angst habe, außerhalb meines Safe Spaces auf Menschen zu stoßen, bei denen ich meine Grenzen nicht wahren kann. Das Buch sagt, ich soll mal eine Liste machen mit Dingen, die meinem Körper gut tun. Ich schreibe:
1. Sex.
2. Nägel lackieren.
3. Tanzen. Ungehemmt, verschwitzt.
4. Barfuß gehen.
5. Nackt schlafen.
6. Gute Düfte riechen.
7. Gleichmäßige Bewegungen – Radfahren, Schwimmen, Gehen.
8. Feinmotorische Bewegungen – Stricken, Knüpfen.
9. Haare glätten, locken, flechten, bürsten.
10. Schminken.
Davon soll ich nun jeden Tag eine halbe Stunde lang etwas machen. Am nächsten Tag schreibe ich einer alten Flamme, mit der ich auf Reisen über längere Zeit wunderbaren Sex hatte, jemand, bei dem ich mich „safe“ fühle. Passt. Er ist nach wie vor Single, wir treffen uns ab diesem Zeitpunkt wöchentlich. Kuscheln geht auch. Wir sind Freund_innen, kennen uns ewig, an mehr sind wir nicht interessiert. Zwischendurch verstricke ich mich in kleinere Re-Inszenierungen alter Teenager-Geschichten mit ihm, kann es aber auflösen, die emotionale Abhängigkeit, die ich wohl beobachte, nimmt ebenfalls stetig ab. Dafür nähre ich nach. Eine neue Erfahrung, ständig Konsens mit jemandem zu üben, mit dem ich nicht in einer Liebesbeziehung bin, ständig zu besprechen und abzuchecken, ob sich nicht jemand von uns beiden Hoffnung auf etwas anderes macht.
Sex, Tanzen und lackierte Nägel tragen mich über eine wahnsinnig stressige Trennungs- und Umzugszeit mit Kind hinweg. Als ich endlich mehr Zeitressourcen zur Verfügung habe, gehe ich ins Schwimmbad und lege ad hoc 50 Längen in Rekordzeit hin. Ich habe keine Ahnung, wie das möglich ist. Beim nächsten Mal wieder. Zu Silvester renne ich praktisch auf einen Berg und wieder hinunter. Es hätte noch schneller sein können. Wenn ich beginne, mich gleichmäßig zu bewegen (wie in Punkt 7 vermerkt), falle ich sofort in einen Flow oder eine Trance ein und bin unstoppable. Es fühlt sich orgasmisch an. Ich merke, dass ich den Sex weniger brauche.
Meine Haare bürste ich liebevoll mit Hingabe nach langem wieder einmal, ebenso die dezente Schminke muss sein. Ich genieße meinen Körper immer mehr.
Über Tinder-Dates zu Traumatherapie und Selbstliebe
Dann melde ich mich bei Tinder an, beschließe das nächste Jahr ordentlich was nachzuholen und fange mir gleich eine Panikattacke ein, als das erste Date ansteht, obwohl die ausgewählte Person eher der Kategorie „ungefährlich – keine Sexabsicht“ entspricht. Ein andermal werde ich einfach nicht mehr feucht bei meinem üblichen Sexdate, was überhaupt kein Thema ist und verfalle in einen dissoziativen Zustand. Ich starre ins Leere, fühle mich irgendwo zwischen taub und ängstlich, bin out of space. Mein Gegenüber kennt sich gar nicht aus. Denkt sich, ich wäre wütend auf ihn, will gehen. Ich erwache aus dem starren Zustand und kenne mich nicht aus. Wieso will er weg? Oh nein, bitte geh’ nicht. Was hab’ ich falsch gemacht?
Da ist sie wieder diese emotionale Abhängigkeit. Gleichzeitig bin ich komplett verwirrt. Später rekonstruieren wir, was passiert ist. Mir war nicht klar, dass ich mich unabsichtlich weggebeamt hatte. Es führt also kein Weg am EMDR vorbei, einer speziellen Methode aus der Traumatherapie. Die alten Grenzverletzungen müssen wohl aufgearbeitet werden.
Und siehe da. Es klappt.
Zum ersten Mal fühlt sich mein Körper passend an. Ich fühle mich genauso groß, breit, schwer, wie ich bin. Ich spüre meine Haut am ganzen Körper, er hat plötzlich Grenzen. Im Vergleich dazu war ich vorher ein schwabbeliger Barbapapa, der nicht wusste, wo er anfängt, und wo er aufhört. Auf einmal ist alles da! Arme, Beine, Oberkörper, Kopf, Becken … und alles hängt zusammen! Eine Sensation. Ich fühle mich so unglaublich wohl in mir, dass ich zu Hause sofort mit mir selbst feiern muss. Geschminkt, in Dessous, ein Fest nur für mich. Ich zelebriere meinen neuen Körper.
Und dann? Meine Libido schwindet plötzlich. Wie das Fade-Out bei einem Musikstück.
Wo ist meine emotionale Abhängigkeit hin? Sind mir nun alle egal? Das übliche Sexdate, der Ex, bei dem ich vor kurzem noch körperliche Anziehung trotz aller Widrigkeiten verspürte? Tinder? Pfff.
Irgendwie hab ich’s grad so schön mit mir, der Kreativität, der Bewegung …
… aber ein bisschen emotional unabhängiger Sex könnte doch auch ganz schön sein. Oder?
Zwei Wochen später
Die Libido ist wieder da. Ich habe Lust. Ich merke aber auch, wie sich mein „Beute-Schema“ verändert. Was vorher nicht denkbar war, passiert wie von selbst. Ich ändere die Altersspanne bei Tinder. Plötzlich gefallen mir so viele Männer. Ein Match nach dem anderen trudelt ein. Alles Komponisten. Hm. Offensichtlich gibt es ein Festival in der Stadt, zu dem diese lustigen kreativen authentischen Menschen alle angereist sind. Plötzlich gestalten sich Unterhaltungen online wie von selbst. Ohne komische Fragen. Keine stockende Konversation. Die Vibes passen. Ich mache ein Treffen aus fürs Mittagessen und anschließendem Zeitfenster.
Eine Sekunde lang denke ich drüber nach, die Wohnung aufzuräumen. Nein. Auch jegliches Körperhaar bleibt dort, wo es ist. Ich fühle mich wunderschön und unbesiegbar. Und bin aufgeregt. Das Mittagessen wird begleitet von meinem lauten Lachen. Ich fühle mich lebendig und frei von der dunklen Vergangenheit. Es beginnt stürmisch, leidenschaftlich, ein bisschen zu schnell für den Anfang. Aber ich fühle mich unglaublich begehrt und habe Lust, den unbekannten Körper zu entdecken. Ich bin überwältigt von dem Vertrauen, das mir entgegengebracht wird. Ganz entspannen kann ich mich nicht. Doch ich bin meilenweit entfernt von einer Panikattacke. Was ich mag und was weniger, sage ich. Ich kann also meine Grenzen wahren, auch außerhalb meines “Safe Space”. Als das Zeitfenster sich dem Ende neigt, verabschiede ich ihn freundlich aber bestimmt.
Befreit, schön und stolz. So fühl ich mich. Es ist einfach großartig. Auf den Zehen, an denen gerade noch jemand gelutscht hat, fallen mir die gar nicht so unscheinbaren Härchen auf. Ich muss laut lachen über all die Unsicherheit, die ich Jahre mit mir herumgetragen hab.
Endlich weiß ich, wie es sich anfühlt, sich bedingungslos zu lieben.
Beitrag erschienen in: weiter.machen
Beitragsbild: Dean Oakly
wie schöööön
Hm, schön erzählt.