Von Frau Taugewas
Vor einigen Jahren habe ich einen mehrwöchigen Kurs besucht. „Starke Eltern, starke Kinder“ hieß dieser Kurs und er half mir dabei, die eigenen pädagogischen Kompetenzen zu erweitern. Der Blick auf das Kind und die Eltern-Kind-Beziehung ist nach diesem Konzept her ein verständnisvoller und achtsamer. Der Kurs hat mir gut gefallen.
Ein Satz jedoch, den die Kursleiterin uns Eltern sagte, ist mir im Gedächtnis geblieben und lässt mich nicht los. Sie forderte uns Eltern auf, eine Beziehung zu unserem Kind zu entwickeln, auf deren Grundlage wir als Mutter oder Vater sagen können: „Du bist das Kind, das ich mir gewünscht habe!“ und diese Botschaft sollte das Kind erreichen. Entweder indem wir diesen Satz – sofern wir ihn denn mit vollster Überzeugung aussprechen können – zu unserem Kind sagen, oder auch durch unser gesamtes Handeln in der Beziehung. Im besten Falle beides.
„Du bist das Kind, das ich mir gewünscht habe.“
Das setzt nicht nur voraus, dass ich mir ein Kind gewünscht habe, sondern auch, dass ich mir genau dieses Kind gewünscht habe. Ein Kind wie dieses. So ein Kind.
Dieser Satz, so romantisch er auch klingen mag, stößt mir bitter auf.
Die Vorstellungen und Erwartungen, die ich in der Schwangerschaft oder auch in der Babyzeit meines Sohnes hatte, sind teilweise völlig anders als die Realität. Abgesehen davon, dass ich wenig Ahnung hatte, wie sich ein Leben mit Kind tatsächlich gestaltet, sind nicht mal die diffusen Ahnungen, welche Gefühle und mögliche Beziehungen ich zu einem Kind aufbauen kann, eingetroffen.
Natürlich wusste ich nicht, ob mein Kind später mal braune oder blonde Haare haben wird, beides wäre möglich gewesen. Oder ob es lieber Fußball oder Tischtennis spielen wird. Oder beides. Oder gar nichts davon. Das wissen wohl die wenigsten Eltern vorher. Darum geht es aber auch nicht.
Es geht um Annahme und Akzeptanz. Die Kursleiterin wollte uns Eltern aufzeigen, dass wir dieses Kind annehmen und lieben (lernen) sollen. Das Kind, das die Eltern erwartet haben, ist da und es ist ein Kind und genau das hatten sie sich ja gewünscht. Dieses Kind soll spüren, dass es gewünscht ist und angenommen. Der Satz „Du bist das Kind, das sich mir immer gewünscht habe“ soll genau diese Gefühle ausdrücken.
Mit diesem Satz schwingt die Annahme von der Erfüllung der eigenen Vorstellungen mit.
Warum mir dieser Satz hauptsächlich nicht gefällt, liegt einerseits an der Botschaft, die ich meinem Kind damit mitteile: Ich hatte eine Vorstellung, wie Du sein sollst und – ein Glück! – bist Du so geworden.
So wie ich meinen Sohn kenne, würde der sich fragen, was ich denn täte, wenn er nicht so geworden wäre.
Der Umstand, so zu sein, wie man ist, liegt vor allem für ein kleines Kind gefühlt außerhalb der eigenen Möglichkeiten und ruft eine Art Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit hervor.
Je kleiner ein Kind ist, desto ursprünglicher ist es. Erst mit dem Älterwerden wächst das Bewusstsein, das eigene Handeln und Denken zu steuern. Und selbst uns Erwachsenen fällt das oft schwer.
Goethe schrieb:
“So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen.
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“
(aus den: Urworten, orphisch)
Dem Menschen liegt demnach schon bei der Geburt eine Bestimmung inne, wie er ist und dieses Sein ist in seiner Entwicklung geschützt vor Zerstückelung und Schaden.
Das wirkt auf mich in erster Linie wie eine gute Nachricht. Betrachtet man diese jedoch mit dem Satz der Kursleiterin im Hinterkopf, wird meine Sorge klarer: So zu sein, wie man ist, ist fern des eigenen Einflusses, sondern es ist vorherbestimmt.
In einem Gute-Nacht-Lied heißt es: „morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt“. Als Erwachsene empfinde ich diese Stelle des Liedes als sehr beruhigend. Mein Kind liegt geborgen in Gottes Hand. Er wacht über mein Kind. Eine gewünschte Ohnmacht ist das für mich.
Als ich selber klein war, gruselte es mich aber vor dieser Zeile. Meinem Bruder ging es ähnlich. Wir fragten uns: Was ist denn, wenn Gott nicht will? Wache ich dann nicht mehr auf?
Genauso sehe ich es mit dem Satz der Kursleiterin. Er kann von Kindern missverstanden werden und verunsichern. Weil ich „ich“ bin, haben mich die Eltern lieb, denn ich bin so, wie sie sich ihr Kind gewünscht haben. Was aber, wenn ich mich ändere, wenn Änderung eintrifft, selbst, wenn ich das nicht steuern kann? Was ist, wenn diese Änderungen nicht gewünscht sind? Bin ich dann nicht mehr das Kind, dass sie sich gewünscht haben?
Dass ich den Satz der Kursleiterin unglücklich gewählt finde, liegt außerdem daran, dass er nicht mit meinem persönlichen Gefühl überein stimmt.
Dieser Junge ist nicht das Kind, das ich mir gewünscht habe.
Dieser Junge ist keinesfalls das Kind, das ich mir gewünscht habe.
Das Wunschkind.
Es trägt geschnürte Lederschuhe mit Schnürsenkel und Poloshirts. Vielleicht auch Sportschuhe und Sweatshirts. Das Wunschkind singt im Kindergottesdienst mit und geht um die Ecke zur Schule und trifft sich auch ab und an mit anderen Kindern, bei diesen zuhause. Das Wunschkind ist in der Freizeit im Sportverein oder musiziert oder buddelt im Sand. Das Wunschkind spielt mit mir Gesellschaftsspiele und versteht die Regeln. Es spielt mit Lego und liest Bücher. Das Wunschkind ist hilfsbereit und optimistisch.
Das Wunschkind.
Das Kind, das als Wunschdenken in meinem Kopf lebte, kann gar nicht existieren, es wäre einseitig und langweilig. Es wäre so banal normal, so klischeehaft wie Conni aus den Connibüchern.
Mein Kind ist ein Realitätskind.
Es trägt klobige Outdoorschuhe mit Klett und es motzt und meckert viel über kratzende Kleidung und die drängelnden Leute in der Bahn Das Realitätskind sitzt auf der Kirchenbank, wenn alle anderen stehen und es steht auf, wenn alle sitzen. Das Realitätskind geht auf die Förderschule, eine Stunde entfernt, ich kann an einer Hand abzählen, wie oft es sich in den letzten Jahren zum Spielen verabredet hat. Das Realitätskind mag keine Musik, doch baut es Elektrogeräte auseinander und sitzt gerne in Kartons. Lego, Playmobil und Eisenbahn stehen wie neu im Regal. Das Wunschkind ist ein Tierfreund und leider auch oft ein Pessimist.
Mein Kind ist nicht das Kind, das ich mir gewünscht habe.
Die Beziehung zu meinem Kind ist ganz anders als ich mir sie vorzustellen versucht habe.
Ich war nicht im Stande mir so etwas großartiges, tiefgründiges, anstrengendes, zerreißendes und erfüllendes vorzustellen. Ja, vielleicht hatte ich eine leise Ahnung, dass Mutterschaft mehr ist, als plötzlich ein Kind zu haben. Aber diese leise Ahnung bereitete mich gerade mal darauf vor, mich auf einige Monate Schlafmangel einzustellen und mir das Fluchen abzugewöhnen, bevor mein Kind selber zu sprechen beginnt. Alles darüber hinaus überstieg meine Vorstellungskraft.
Vor Augen hatte ich einfach ein Kind. Das Wunschkind. Und das hab ich nicht bekommen.
Ich bin froh darum.
Das Wunschkind kann mir nicht die Welt in seiner eigenen Sprache erklären. Das Wunschkind lässt mich nicht an meine Grenzen gehen und eröffnet mir dadurch keine neuen Einsichten über mich selber und neue Perspektiven für unsere Beziehung. Das Wunschkind könnte mir niemals so viele Türen zu neuen Welten öffnen, denn es ist beschränkt durch meinen eigenen Verstand.
Die Vielfalt an Gefühlen, die ich für meinen Sohn empfinde, konnte ich mir vorher nicht vorstellen und auch nicht wünschen. Die emotionale Weite und die Erkenntnisse, die ich in knapp acht Jahren Mutterschaft durchlebt und erreicht habe, konnte ich mir nicht ausmalen.
Dieses Kind ist nicht das Kind, das ich mir gewünscht habe.
Dieses Kind ist mein Realitätskind, dem ich uneingeschränkte Akzeptanz und Annahme vermitteln möchte: Du bist mein Realitätskind. Ich hab dich lieb. Weil Du Du bist. Deshalb hab ich dich lieb. Du könntest die schlimmste Wut haben, ich kann mich schrecklich mit dir streiten, Du, ich hab dich immer noch und trotzdem lieb. Du bist der, den ich lieb habe. Weil ich Dich lieb haben will.
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Frau Taugewas ist Studentin und Bloggerin, verheiratet mit einem
Inselmenschen, hat zwei Söhne, der eine ist Inselmensch, der andere
schwimmt gegen den Strom. Über all das bloggt sie.
Erschienen in: Sommeredition
Beitragsbild: Frau Taugewas. Mit allen Rechten.
oh ich mag den text sehr sehr sehr. danke!!!
Sehr treffend und bereichernd. Ich freu mich über einen neuen Begriff. Realitätskind.
Vielen Dank Euch 🙂
Ein super schöner Text, zum Gänsehautkriegen! ☺
Ja!
[…] Bei ustandslo schreibt Frau Taugewas über die Beziehung zu ihrem Kind und den Begriff „Wunschkind„. […]
[…] selbstkritisch fand ich den Text von Frau Taugewas, in dem sie sich über den Satz „Du bist das Kind, das ich mir gewünscht habe“ auslässt. Warum ihr dieses kleine Satz ganz und gar nicht gefällt, könnt ihr auf dem Blog […]
Das ist ein toller Text und mir geht es ganz genauso mit meinem Sohn. (Außerdem mag ich, wenn so dahergesagte, hirnlose “Weisheiten” auseinander genommen werden.) Danke dafür!
Soso ein schöner und wahrer Text. Danke! <3
Hahaha, was soll ich denn sagen. Unsere Zweite kam mit Trisomie 21 zur Welt. Ich liebe sie abgöttisch und möchte sie nicht wieder hergeben. Ja, sie bereichert unser Leben und ist ein total liebes Mädchen, ich habe diesbezüglich nix zu meckern. Aber ihr zu sagen: Du bist genau das Kind, das ich mir gewünscht habe? Das wäre nun mehr als lügen. Unsere Kinder sind eben ganz anders als das, was wir uns, kinderlos und mit sehnsüchtiger Erwartung auf das positive Testergebnis (oder auch nicht und “eiskalt erwischt) vorgestellt haben. Die Mutterschaft, die Schwangerschaft, die Geburt, die Stillzeit, alles wird immer noch total überhöht und verzerrt dargestellt. Eltern schlafen zu wenig. Eltern haben oft zu wenig Geld, immer aber zu wenig Zeit und zu wenig Nerven. Das macht aus uns keine besseren Menschen, im Gegenteil. Und die Kinder sind nun mal auch echte Persönlichkeiten, da können wir auch noch so viel dran rumerziehen oder eben auch nicht.
Danke Euch für Eure lieben Kommentare 🙂
@ChaosLu
oh ja, das stimmt, sie sind echte Persönlichkeiten 🙂 Unser jüngerer Sohn (nicht der, von dem ich in diesem Posting schrieb) kam mit einem Gendefekt und Geburtsschaden zur Welt und ist mehrfachbehindert. Auch so ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe und gewünscht habe… Doch er ist eben auch diese “Persönlichkeit”, die ich mir niemals hätte vorstellen können. Ich bin sehr dankbar, dass ich ihn kenne und bei mir habe.
Ich hab deinen Text jetzt erst entdeckt.. der letzte Satz an deinen Sohn ist ganz wunderabar. Und ich freue mich, dass andere auch über diese Liedzeile stolperten.. ich hab schon immer gesungen. Morgen früh, morgen früh wirst du wieder gewckt. Punkt 😀 Schwedenlichtergrüße in eure kleine Familie aus Schweden von Lovisa