von Cornelia
In vielen Filmen müssen Schwangerschaft und Elternschaft als Metaphern für den Start in ein neues, besseres, vollendeteres Leben herhalten. Im klassischen Mainstream-Kino ist das nicht selten gleichbedeutend mit der Hollywood-Version der heteronormativen Kleinfamilie. Happy End. Ein schwangerer Bauch schiebt sich ins Bild, bevor der Vorhang fällt. Ein geheimnisvolles Lächeln zwischen den beiden Elternteilen, eine liebevolle Geste am Bauch. Traumfabrik-Lebensziel erreicht.
Wäscheaufhängen zwischen Sichtbetonmauern. Eine rechteckige Öffnung auf Augenhöhe gibt den Blick nach draußen frei. Wie sooft im Film träumt sich die Protagonistin Camille auch in dieser Szene sehnsüchtig zum Fenster hinaus.
Mutter: „Glaubst du allen Ernstes, du kriegst das hin?“
Camille: „Immer noch besser als du.“ (…)
Mutter: „Du hältst dich für schlau, aber du hast nichts kapiert. Wenn du wüsstest, was es heißt, ein Baby zu bekommen. Glaub’ ja nicht, dass ich das noch ‘mal 18 Jahre mitmache. Ich will leben!“
Camille: „Das will ich auch! Aber das hat dich noch nie interessiert.“
“200 Prozent Leben”
In 17 Mädchen, einem Film von Delphine und Muriel Coulin, wird Mutterschaft zur Utopie und einzigen Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und Schwangerschaft zum sichtbaren Zeichen gegen die vorherrschenden Normen und Erwartungen. 17 Mädchen erzählt die auf tatsächlichen Begebenheiten (“Pact, what pact?”) beruhende Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen, die sich als Rebellinnen gegen die von der Erwachsenenwelt für sie vorbestimmte Zukunft stellen – und der Reihe nach schwanger werden. Als Kulisse dient die Tristesse der bretonischen Hafenstadt Lorient, deren Landschaften und Architekturen sich in Analogie zu den Gefühlen der Teenager lesen lassen: Gerade Linien und Kreuzungen ziehen sich in Form von Straßen, Schienen, Plattenbau-Fronten, Sanddünen und Fensterrahmen durch das Bild. Es regiert Langeweile und Deprimiertheit. In Zimmern mit bunt angemalten Wänden, Kuscheltieren und Gitarren hocken, liegen, fadisieren sich die Protagonistinnen auf ihren Betten und Sofas.
Der narrative Ausgangspunkt ist in seiner Uneinzigartigkeit banal: Camille wird ungewollt schwanger und beschließt gegen skeptische Einwände einzelner Freundinnen das Kind zu behalten: „Dann habe ich einen Grund, etwas aus meinem Leben zu machen. (…) Ich habe dann zwei Leben: eines mit der Schule und eines mit dem Baby, 200 Prozent Leben. Und dann habe ich jemanden, der mich mein Leben lang liebt. Einfach so.“ Der Vater des Ungeborenen, der sich ohnehin nur vergewissert, ob er eh „nichts damit zu tun“ habe, ist für Camille nicht Teil ihrer Utopie. Ihre Mutter ist auch alleinerziehend, allerdings viel abwesend, was ihr das Mädchen ankreidet. Sie selbst will es anders, besser machen.
“It’s getting boring by the sea”
Nur kurze Zeit später wird ein zweites Mädchen ebenfalls schwanger und die Geschichte nimmt ihren Lauf. „Let’s consider a change of scenery. It’s getting boring by the sea“, singen Blood Red Shoes in die Kopfhörer von Camille und in die Köpfe der Zuseher_innen. Tatsächlich scheint auch die Langeweile in Lorient handlungsantreibendes Moment in 17 Mädchen zu sein. „Ich freu mich auf die Kleinen, dann langweilen wir uns nie“, kommentiert die erst wegen ihrer Schwangerschaft in Camilles Clique aufgenommene Florence einen jener trostlosen Nachmittage, die sich ungezählt aneinanderreihen. Beim Cola im Fastfood-Restaurant kommt der Mädchengruppe schließlich die Idee. Camille spinnt den Plan: „Stellt euch vor, wir wären alle zusammen schwanger. Wir wären frei, glücklich. Entscheiden allein. Die ersten Zähne, Einschulung – wir machen alles zusammen.“ Es bleibt nicht bei der Idee. Nach und nach wachsen die Bäuche der Mädchen. Es hört nicht auf. Das Schwanger-Sein selbst schafft Zugehörigkeit – aber auch Ausschlüsse.
Abends im leeren Restaurant von Clémentines Eltern. Der Vater ist wütend und wird gewalttätig.
Vater: „Wenn ich den Mistkerl erwische.“
Die Mutter erinnert an HIV, dass Verhütung eine wichtige Sache und ernst zu nehmen sei.
Clémentine: „Hier ist immer alles ernst. Wir unternehmen nichts. Wir fahren nie in die Ferien. Ich darf nie was!“
Der Vater schimpft über Camille, die ihr den Kopf mit ihren Ideen verdreht habe.
Vater: „Was glaubt ihr denn mit eurer Spinnertruppe? Dass ihr die Welt verändert?“
Clémentine: „Na und. Wir versuchen’s wenigstens. Wir wollen nicht irgendwann dastehen wie Idioten.“
„Als wäre Muttersein ihre einzige Perspektive. Das ist doch schrecklich.“
In der Schule wird im Kollegium diskutiert, die Erwachsenen sind ratlos. „Das ist charakteristisch für Teenager. Sie wollen über ihren Körper bestimmen. Sie stechen sich Tatoos, sie piercen sich, sie weigern sich zu essen und hier lassen sie sich schwängern“, meint einer. Während die einen versuchen, dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen, immerhin seinen die Mädchen selbstsicher und solidarisch, sind die meisten entsetzt: „Als wäre Muttersein ihre einzige Perspektive. Das ist doch schrecklich.“ Die Schwangerschaften werden als Massen-Utopie betitelt. Anstatt über die Beweggründe mit den Mädchen zu reden, wird nach einer Elternversammlung ein Kondomautomat aufgestellt und der Direktor stellt in Aussicht, Camille – sie wird als „Brandstifterin“ ausgemacht – von der Schule zu verweisen, wenn wieder neue Schwangerschaften bekannt würden.
Währenddessen schmieden die Mädchen Pläne einer gemeinsamen WG mit Putzplan und ohne Eltern-Verbote. In der Realität bleibt es vorerst bei einem hüttenähnlichen Trailer, der hauptsächlich von der Jüngsten im Bunde, Clémentine, genutzt wird. Sie ist nach dem Streit mit ihren Eltern von daheim weggelaufen. Der Trailer steht Wind und Wetter ausgesetzt nah am Meer. Es ist unwirtlich, aber frei. Überhaupt, das Meer, das Wasser. Es wird als Ort der Träume inszeniert. Hier lebt die Utopie. Hier sind keine Erwachsenen. Hier spielen die Jugendlichen aber auch mit dem Feuer. Am Strand findet die herbeigesehnte Party statt, bei der sich die ersten Mädchen bewusst schwängern lassen. Am Strand treffen sich die Schwangeren später wieder mit den Jungs, um zu feiern. In einer trefflichen Metapher spielen die Jugendlichen ausgelassen mit einem Ball, der Feuer gefangen hat. An dem Abend küsst der Vater von Camilles Baby diese, aber auch eine andere Freundin, die ebenfalls ein gemeinsames Kind in sich trägt. Es ist eine erste Vorahnung, wie fragil das Konstrukt der Mädchen ist, wenn Eifersucht und Liebe mitspielen.
Im Krankenzimmer der Schule. Die Schulkrankenschwester warnt Camille, dass es aufhören müsse. Nicht alle Mädchen seien so stark wie sie.
Camille: „Meint ihr vielleicht, ihr habt den besseren Plan? Ja? Verdammt, fragt ihr euch nicht mal warum und wieso das alles? Was habt ihr ihnen schon Schönes gezeigt? Bietet ihr vielleicht was Besseres?“
Die Krankenschwester verweist auf das Studium als eine Perspektive auf ein besseres Leben. Camille lässt das nicht gelten und wirft den Erwachsenen vor zu lügen.
Camille: „Verrückt ist doch, wie ihr alle lebt. Ihr merkt nicht mal, wie beschissen das ist.“
“In drei Monaten kratzt ihr euch die Augen aus”
Die Mädchen halten während der Schwangerschaftszeit fest zusammen und kümmern sich umeinander. Von den Erwachsenen kommt weder Unterstützung noch Verständnis. Nur Camilles Bruder kann die Entscheidung nachvollziehen. Er selbst ist auf der Suche nach einem besseren, einem anderen Leben nach Afghanistan in den Krieg gezogen. Die beiden Geschwister wählen den jeweils für sie einzig möglichen Weg: Mutterschaft versus Soldatendasein. Doch Camilles Bruder bezweifelt dennoch, dass die Utopie der Mädchen Wirklichkeit werden kann: „In drei Monaten kratzt ihr euch die Augen aus. Mit sechs hauen such die Kleinen in die Fresse. Mit 14 spannen sie sich die Mädels aus. Das kannst du vergessen.“
Am Ende scheitert diese Utopie nicht unüberraschend an der Realität: Die schon hochschwangere Camille verliert bei einem Unfall ihr Kind und verlässt daraufhin die Stadt. Die anderen bekommen nach und nach ihre Babys. Mit Camille hat aber auch der Traum vom gemeinsamen Leben die Gruppe verlassen, er ist den anderen Mädchen fast unbemerkt abhanden gekommen. Während die Kamera eine Nachmittagssituation wie eh und je einfängt, erzählen die Mädchenstimmen aus dem Off vom Ende ihrer Pläne und ihrer neuen Lebensrealität. Zumindest im filmischen Bild unterscheidet sich diese nicht von jener vor den Geburten – Lorient scheint Lorient geblieben zu sein. Mit der Abweichung, dass neben den plaudernden Mädchen nun identische Kinderwägen stehen. „Wir haben 15 Babys. Fast alle sind weiter zur Schule gegangen“, erzählt die Off-Stimme. „Aber natürlich haben wir unsere Kinder nicht zusammen großgezogen. Darüber haben wir nicht ‘mal mehr geredet.“
“Cause your good life is now over”
Der Film lässt die Stadt, die Mädchen, die Träume hinter sich. Aus der Distanz blickt er ein letztes Mal zum Strand, erinnert sich an die Anfänge, verklärt das Jetzt. Die Ambivalenz schleudert den Zuseher_innen die französische Sängerin Izia als Abschluss entgegen. Ihre zornige und trotzige Melodie erinnert schmerzlich an energievoll erträumte und im Leben nebenbei vergessene Teenager-Utopien, ihre Sätze liefern eine Interpretation des soeben Gesehenen: „Sorry about all the heroes failed. Sorry about you’ll come again. The word said violence for ever, cause your good life is now over. And now you’re standing alone. You said that you wanna breathe. (…) Tell me how you did to always have been in the wrong side of the way. Cause everything you said, didn’t make you stay. (…) Tell me that you care.“
17 Mädchen ist ein melancholischer Film, der an die Besonderheit von Teenager-Freundschaften anknüpft. Die Solidarität der Mädchen und die Abgrenzung gegen die Welt der Erwachsenen ist ein schöner Ausgangspunkt für die Utopie, die daraus gesponnen wird. Die Pop- und Rockmusik aus den Kopfhörern der Mädchen, aus den Autoradios und den Partyboxen trägt maßgeblich zum Aufbau einer dafür authentischen Atmosphäre bei (ganz wunderbar: Constance Verluca “Les trois copains“, Devendra Barnhart “Carmensita” und Tricky “Puppy Toy“). Der Film bewertet das Handeln der Jugendlichen nicht, er zeigt es nur und spiegelt die Stimmung in den narrativen Räumen. Am Anfang wird ein Blick auf die „Bar du Monde“, sozusagen auf die Kneipe von Welt, in die filmische Einführung der Hafenstadt Lorient geschnitten. Am Ende zieht nur Camille, die ihr Kind verloren hat, in die Welt hinaus. Wohin? Niemand hat je erfahren, was wirklich aus ihr geworden ist. Die Gerüchte spekulieren von Südfrankreich. Von Mexiko. Die Mädchen haben nie wieder etwas von ihr gehört. Einzig als ihre engeren Freundinnen ihre Babys geboren haben, hat sie eine Nachricht geschrieben. Vielleicht in letzter Erinnerung an eine gemeinsame Utopie. Eine Utopie, die zumindest einen Spätsommer lang greifbar war.
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Editorial: utopien
Beitragsbild: “17 filles” presskit | photos: Jérôme Prébois, Frédéric Castelnot (Rahmen und Zuschnitt von umstandslos)