von Gabriele Winker
Von allen Menschen im erwerbsfähigen Alter wird im neoliberalen Kapitalismus verlangt, durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Dies gilt unabhängig von Geschlecht, Familienstatus und Anzahl der zu betreuenden Kinder und Angehörigen. Gleichzeitig wird die Aufgabe, sich beschäftigungsfähig zu halten, verstärkt an sie selbst und ihre Angehörigen zurückgegeben. Diese kostensenkende Verlagerung von Sorgearbeit basiert darauf, dass ein wesentlicher Teil dieser gesellschaftlich notwendigen Arbeit nicht entlohnt und abgewertet von Frauen in Familien verrichtet wird. Die damit verbundene andauernde Überlastung ohne Erholungspausen führt zu Erschöpfung bis hin zu psychischen Erkrankungen. Ebenso bleiben wichtige Bedürfnisse von Kindern oder kranken Menschen, die auf Sorge angewiesen sind, unerfüllt.
Dagegen knüpft die Strategie der Care Revolution an Erkenntnisse feministischer Politik an und stellt die grundlegende Bedeutung der Sorgearbeit im nicht entlohnten familiären Bereich ebenso wie im entlohnten Care-Bereich ins Zentrum sozialer Auseinandersetzungen. Damit wird Sorgearbeit, die in den meisten politischen Strategien ebenso wie in den vorherrschenden ökonomischen Theorien keine Rolle spielt, als Bezugspunkt der Gesellschaftsveränderung gewählt. Das Ziel und damit auch die konkrete Utopie der Care Revolution ist eine an menschlichen Bedürfnissen, insbesondere an der Sorge füreinander orientierte, radikal demokratisch gestaltete solidarische Gesellschaft.
Mit folgenden Schritten ist es möglich, sich dem Ziel guter Sorge und eines guten Lebens zu nähern:
- Ausreichendes Einkommen für alle, um die eigene Existenz zu sichern: Das bedeutet zunächst einen substanziellen Mindestlohn ohne Ausnahmen, ein bedingungslos gezahltes Grundeinkommen, eine deutlich bessere Entlohnung der Arbeit in Care-Berufen.
- Ausreichende Zeit, um neben der Erwerbsarbeit die Sorge für nahestehende Menschen und für sich selbst bewältigen zu können und Zeiten der Muße übrigzubehalten: Das bedeutet zunächst Arbeitszeitverkürzung für Vollzeit-Erwerbstätige, besondere Erleichterungen für Menschen mit hohen Sorgeaufgaben und eine diskriminierungsfreie Verteilung von Sorgearbeit.
- Eine soziale Infrastruktur, die Sorge und Selbstsorge wirklich unterstützt: Das bedeutet zunächst ein ausgebautes und kostenlos nutzbares Bildungs- und Gesundheitssystem, finanzierbaren Wohnraum, kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und die Unterstützung von Selbsthilfenetzwerken und Commons-Projekten. Über eine Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums ist dies realisierbar.
- Echte Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen: Das bedeutet eine umfassende demokratische Selbstverwaltung, beginnend im Care-Bereich. Umsetzbar ist dies einerseits über Care-Räte, die für die überregionale Abstimmung und die demokratische Kontrolle verantwortlich sind, und andererseits über dezentrale Selbstbestimmung vor Ort, da sich viele Care-Projekte wie Gesundheitszentren, Kitas oder Bildungsangebote auch dezentral gestalten lassen.
- Diskriminierungsfreie Gesellschaft: Das bedeutet, dass es keinen Ausschluss, keine Benachteiligung und keine Privilegien beispielsweise wegen der Herkunft oder der Staatsangehörigkeit, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, der körperlichen Leistungsfähigkeit oder der beruflichen Kompetenz gibt.
Um die genannten Ziele schrittweise umzusetzen und damit der konkreten Utopie eines guten Lebens für alle näher zu kommen, hat sich 2014 das Netzwerk Care Revolution (http://www.care-revolution.org) gegründet. Dieses Netzwerk setzt sich insbesondere für grundlegende Veränderungen im Bereich nicht entlohnter und entlohnter Sorgearbeit ein. Im Netzwerk Care Revolution sind Initiativen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und auch mit verschiedenartiger politischer Schwerpunktsetzung vertreten. Das Spektrum reicht von Initiativen pflegender Angehöriger über Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen und Elterninitiativen bis zu Organisationen von Migrant_innen, von Verdi- und GEW-Betriebsgruppen im Bereich der Pflege und Erziehung über Organisationen aus den sozialen Bewegungen bis zu feministischen und linksradikalen Gruppen. Die meisten Initiativen sind in Deutschland aktiv, aber auch in Österreich und der Schweiz unterstützen einzelne Initiativen das Netzwerk Care Revolution.
Ein wichtiger Grund für die Zusammenarbeit der im Netzwerk Care Revolution aktiven Gruppen ist, dass es zur Realisierung auch der kleinsten Schritte eines politischen Zusammenschlusses Aktiver über Care-Bereiche und über Positionen im Sorgeverhältnis hinweg bedarf. Ansätze einer solchen Politik wurden 2015 in Deutschland beim Kita-Streik sichtbar. Selbst wenn Erzieher_innen und Eltern in der Streiksituation selbst unterschiedliche Interessen hatten, bezogen sie sich aus unterschiedlichen Positionen positiv und wertschätzend aufeinander. Auf dieser Basis lässt sich die Sorgearbeit für Kinder insgesamt ins Zentrum von Politik stellen und es lassen sich gute Arbeitsbedingungen für berufliche und familiäre Sorgearbeitende erkämpfen. Es war ein wichtiger Schritt in diesem Streik, dass der Vorstand der Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege bereits zu Streikbeginn die Erzieher_innen mit einer Online-Petition unterstützte und Ende Mai 50.000 Unterschriften an die Verhandlungsführer der kommunalen Arbeitgeber übergeben konnte.
Darüber hinaus ist es ein zentrales Ziel der Care Revolution, die Care-Bereiche der Verwertung von Kapital zu entziehen und sie demokratisch entsprechend menschlicher Bedürfnisse zu gestalten. Denn gerade bei Care-Leistungen wird deutlich, wie unsinnig und kontraproduktiv es ist, Menschen nach dem Prinzip maximaler Profitabilität und Effizienz erziehen, unterstützen, bilden oder beraten zu wollen. Darüber hinaus führt das derzeitige System sozialer Infrastruktur gerade bei der Bildung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen zu großen sozialen Ungleichheiten. Schließlich haben Menschen sehr unterschiedliche Wünsche an eine soziale Infrastruktur. Deswegen ist es sinnvoll, durch Mitsprache aller jeweils Betroffenen vielfältige Angebote zu entwickeln. Dies können sowohl Commons- und Selbsthilfeprojekte sein als auch eine radikal demokratisierte öffentliche Infrastruktur. Beides ist im Erziehungs- und Sozialdienst wie in vielen anderen Care-Bereichen auf kommunaler Ebene und damit dezentral in Stadtteilen oder im Dorf gemeinsam plan- und umsetzbar.
Dieser Weg zu einer Demokratisierung und Vergesellschaftung aller Care-Bereiche und damit zu einer Revolutionierung der Sorgearbeit sieht vom gegenwärtigen Standpunkt aus fast unüberschaubar weit aus. Auf ihm wird es Rückschläge und Umwege geben. Es werden sich aber auch überraschende Erfolge und neue Ideen einstellen, die von Akteur_innen kommen, die bisher noch kaum Teil der sozialen Bewegung sind und die ihre Erfahrungen und Gedanken zum Tragen bringen. Je unterschiedlicher diese Mitstreiter_innen sind, desto vielfältigere und interessantere Vorschläge und Konzepte werden entstehen, die auch durch globalen Wissens- und Gedankenaustausch bereichert werden. Die geteilte Erfahrung, dass solidarisch Handelnde tatsächlich ihre Welt gestalten können, kann die nötige Energie freisetzen, um den Weg in eine solidarische Gesellschaft zu gehen, in eine Gesellschaft, in der Menschen die für sie jeweils guten Lebenskonzepte tatsächlich realisieren können. Insofern eröffnet für mich die Strategie der Care Revolution den Weg in eine konkrete Utopie, für die es sich heute schon zu streiten lohnt.
Diese Gedanken sind ausführlich nachzulesen in meinem 2015 erschienenen Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“. Eine knappe Einführung ist in einem 12 minütigen Video hier zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=LbVlSxAT5fM.
Dr. Gabriele Winker ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg-Harburg. Sie ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg (www.feministisches-institut.de) und ist im Netzwerk Care Revolution (www.care-revolution.org) aktiv.
Beitrag erschienen in: utopien.
Warum um himmelswillen ist denn die seite “nicht erreichbar”???