von Anne Bonnie
In letzter Zeit ist immer häufiger die Rede vom Muttermythos* und man erhält den Eindruck, dass dieser Mythos langsam dekonstruiert werden könnte.
Das hier besprochene Buch „Mütter ohne Liebe“ beschreibt die langen Schatten, die der Schein von Muttermythen nach sich zieht. In diesem Ideal regiert verborgen ein großes Tabu, welches zu brechen der Autorin gelingt. Diese Tabus sind unter anderem unterdrückte Gefühle von Müttern, wie Langeweile, Frustration, oder Aggression, welche dem Idealbild der Mutter unterworfen und verdrängt werden müssen. Im schlimmsten Fall brechen diese negativen Gefühle unkontrolliert und unbewusst heraus. Gleichzeitig entzieht sich unsere Gesellschaft und sieht einfach weg. Kindererziehung ist schließlich Aufgabe der Mutter. Und das bereits erwachsene Kind kann seine psychischen Probleme schwer benennen. Deshalb ist „Mütter ohne Liebe“ ein wichtiges Werk. Es kann unserem inneren Kind helfen die eigene Kindheit besser zu verstehen und zu verarbeiten. Es kann Müttern die Unsicherheiten im Umgang mit Kindern nehmen, indem es ehrlich über die menschliche Psyche und Mutter-Kind-Bindungen spricht.
Gegliedert in sechs überschaubare Kapitel, welche ich in nur vier Stunden mit mancher Erkenntnis und einigen Tränen (meines inneren Kindes) durchgelesen habe, entlässt mich das Buch mit einem bestärkten Gefühl, als Mutter in erster Linie immer noch ein Mensch & Individuum zu sein!
Neben kurzen, inhaltlich punktuell gut gefassten Analysen und Erklärungen arbeitet das Buch mit Zitaten von betroffenen Kindern und Müttern. Leider verwendet die Autorin keine gendergerechte Sprache und die Begriffe Mutter und Vater sind mit biologischen Eltern gleichgesetzt.
Das Buch beginnt mit einem geschichtlichen Exkurs zur Mutterliebe. Angefangen im Mittelalter und abschließend mit der Psychologisierung der Mutter-Kind-Beziehung (Bonding) und dessen negative Folgen im 20. Jahrhunderts. Anhand geschichtlicher Etappen wird uns knapp die Entstehung der Mutterliebe und deren Wandel erklärt, was wiederum ein besseres Verständnis für die heutige Bedeutung der Mutterliebe schafft. Besprochen werden auch die Zusammenhänge von Schwangerschaft und Geburt. Ob und wie stark eine Frau ein Kind liebt beginnt bereits mit der Entscheidung zum Kind (nicht jedes ausgetragene Kind wird gleichsam gewollt). Auch traumatische Erfahrungen während der Geburt spielen bereits eine Rolle. Die Autorin erklärt uns den Unterschied zwischen primärer und sekundärer Bindung. Primäre Bindung findet auf triebhafter, körperlicher, und sinnlicher Ebene statt (z.B. das Neugeborene riechen wollen) und wird stark von der Ausschüttung des Hormones Oxytocin beeinflusst und sekundäre Bindung wird langfristig aufgebaut (z.B. Interesse an der Entwicklung des Kindes). All diese Faktoren sind bedeutend für die Intensivität der Mutterliebe.
Um ein noch besseres Verständnis von unserem heutigen Bild des Muttermythos zu erhalten stellt die Autorin zwei Archetypen** gegenüber. Anhand des Wandels der „Großen Mutter“ (Urgöttin) zur „Madonna mit Kind“ wird die Abspaltung und Tabuisierung sehr anschaulich. Die Große Mutter war eine Göttin der Liebe und des Krieges, sowohl gütig, als auch zerstörerisch. Sie gab, entzog aber auch Liebe. Die negativen Seiten wurden mit der Darstellung der Madonna mit Kind ausradiert. Madonna mit Kind wird zur Reinheit degradiert. Ihre negativen Aspekte wurden verbannt und tabuisiert. Die Mutter ist von nun an aufopfernd, voll unerschöpflicher Liebe. Alle ihre negativen Aspekte werden in der Gestalt der Hexe/ Hure abgespalten. Der Archetyp der uns verloren gegangenen Göttin unterschlägt eine ganzheitliche Weltsicht. Den Inbegriff von Leben und Tod.
„Denn neben ihrer (Mutter Göttin) gütigen, Leben spendenden, nährenden, schützenden und unendlich fürsorglichen Seite kann sie sich auch unbarmherzig, versagend, zurückweisend, verbannend und beraubend zeigen. In ihrem dunklen Aspekt kann sie sich buchstäblich, von ihren Kindern nähren, das ist auch auf psychologischer Ebene ein wunderbar anschauliches Bild.“
Was ist nun aber Mutterliebe?
Hier gelangt Gschwend zu drei aussagekräftigen Erkenntnissen.
- Mutterliebe ist kein Instinkt (fehlende Mutterliebe also auch nicht pathologisch!)
- Mutterliebe ist unterschiedlich stark ausgeprägt, nicht nur in jeder Frau, sondern auch im Bezug auf jedes einzelne Kind
- Mutterliebe ist nicht auf die biologische Mutter beschränkt
Anschließend werden die von uns verinnerlichten Annahmen darüber, was Mutterliebe ist dekonstruiert. Gschwend zählt hier fünf Punkte auf und bricht diese mit klarer Analyse.
- Die Selbstlosigkeit der Mutterliebe
Ist, so Geschend, ein Märchen, da der Wunsch ein Kind zu bekommen (meist) Wunsch der Frau ist Mutter werden zu wollen. Häufig soll eine Schwangerschaft gar eine Lücke im Leben füllen.
- Die Reinheit der Mutterliebe
Mutter- Kind- Bindungen sind schlicht menschliche Beziehungen und somit von allen Gefühlen geprägt, die der Mensch in sich trägt.
- Mütter lieben alle Kinder gleichzeitig
Früher war die Geburt eines Sohnes wichtig für die eigene Altersvorsorge (Übernahme des Hofes) und wurde somit mehr zelebriert. Heute besteht zwar keine Notwendigkeit zur Absicherung des Alters, aber ein bestimmtes Geschlecht wird oft weiterhin gewünscht. Ein Kind kann aber auch klare Verhaltensweisen zeigen, welche die Mutter nicht leiden kann, oder sie gar an eine ungeliebte Person erinnert.
- Alle Mütter lieben ihre Kindererziehung
Nicht jede Mutter kann sich über die Entwicklungsschritte ihres Kindes freuen, oder sogenannten anstrengenden Phasen entspannt gegenüber stehen. Die eine Mutter langweilt sich nur, während die andere schlicht weg genervt ist.
- Die Unentbehrlichkeit der Mutter für die Kindererziehung
Aufgrund der Tatsache, dass Frau gebiert, wird ihr eine Unentbehrlichkeit zur positiven seelischen Entwicklung zugewiesen. Wichtig für ein Kind sind Bezugspersonen, die das Kind mit Liebe annehmen. Eine Verwandtschaft ist hierfür nicht nötig.
In Wirklichkeit, so Gschwend, beinhaltet Mutterschaft:
„…Anstrengung, Mühsal und harte Arbeit. Sie beinhaltet Erschöpfung, Frustration und Wut.“
„…Langeweile“
„…im Konflikt mit der Selbstlosigkeit zu stehen und an Selbstverlust zu leiden“
„…die Mutterschaft zu bereuen (moment-, stunden,- oder phasenweise, überwiegend)”
Gschwend gelangt zu der Feststellung, dass Mütter alle ihre negativen Gefühle verdrängen und verleugnen müssen, um diesem Ideal gerecht zu werden und dies hat weitreichende Folgen.
„Die lebenslange Innigkeit zwischen Mutter und Kind ist ein Märchen des Muttermythos, das Frauen dazu zwingt, widersprüchliche Gefühle und ablehnende Regungen ihrem Kind gegenüber zu verdrängen und verleugnen. Es ist gesellschaftlich tabu, ein auch noch so flüchtiges, negatives Gefühl für das Kind zu äußern.“
Was aber passiert, wenn diese Gefühle unbewusst in uns arbeiten? Denn die Existenz negativer Gefühle kann man nicht durch Verdrängung auslöschen.
Die Folgen werden in den nächsten drei Kapiteln behandelt, in dem Gschwend drei Arten von „Müttern ohne Liebe“ benennt und analysiert. Hier finden wir die Arbeit Gschwends als Psychologin wieder. Diese Kapiteln sind wie in einem psychologischen Ratgeber aufgebaut: die ablehnende, distanzierte Mutter, die seelisch ausbeutende Mutter und die aktiv gewalttätige Mutter. Diese drei Mütter ohne Liebe werden in ihren Handlungsweisen (sowie ihre möglichen Mischformen) aufgezeigt. Es folgt eine Benennung der Folgen für das Kind und ein Absatz über die Möglichkeit der Selbsthilfe, für betroffene (erwachsene) Kinder. Die Kapitel enden mit einem auf das Problem bezogenen Absatz. Ich werde auf diese Kapitel nicht weiter eingehen, lege sie aber allen Müttern ans Herz. Es kann hilfreich sein, die eigene Kindheit und die jetzige Beziehung zum eigenen Kind damit zu reflektieren.
Eine Erkenntnis die wir gewinnen, ist, dass Mütter tagtäglich an ihrer Rolle scheitern.
Mütter versuchen ein unerreichbares Ideal nachzuahmen und können dem nicht gerecht werden. Ständig eine liebevolle, verständnisvolle und geduldige Mutter sein zu müssen. Wenn es ihnen einmal nicht gelingt, sehen sie sich selbst als „schlechte Mutter“. Um dies zu vermeiden müssen sie ihre negativen Gefühle unterdrücken, was für das Kind aber dennoch wahrnehmbar bleibt. Der Muttermythos verhindert auch eine reale Auseinandersetzung mit Problemen in Mutter-Kind-Beziehungen.
Traurig ist die gesellschaftliche vorhandende „Wahrnehmungsblockade“, wenn es um problematische und destruktive Mutter-Kind-Beziehungen geht. Man ist nicht zuständig, sieht nicht hin und hinterfragt das „Machtmonopol“ der Mütter nicht. Die alleinige Zuständigkeit der Mutter kann für ihre Kinder schwere Folgen haben. Mütter können ungesehen ihre Kinder zur Selbstverwirklichung missbrauchen, die eigene Unzufriedenheit mit Überbemutterung kaschieren, oder die eigenen Kinder emotional wie körperlich vernachlässigen, ohne dass jemand genauer hinsieht. Auch kann das Mutterideal regelrecht dem Vater seine bedeutende Rolle in der Entwicklung des Kindes entziehen.
„Auch für das Kind ist es nicht wünschenswert abhängig von einer einzigen Person zu sein, welche vielleicht gerade übermüdet, frustriert, unwillig, oder wütend ist oder psychisch beeinträchtig ist.“
Im letzten Kapitel geht es dann um den Verzicht des Muttermythos und die damit verbundenen positiven Folgen. Wir bekämen ein realistisches Mutterbild.
„Beide Aspekte (gute und schlechte Mutter) in das normale Bild der Mutter integrieren zu können, würde einen erheblichen Druck von den Müttern nehmen, im Sinne des „Muttermythos“ perfekt sein zu müssen. Das Kind wiederum könnte sich mit einer realen, authentischen Mutter auseinandersetzten, seinen eigenen Wahrnehmungen von der Mutter und der Beziehung zu ihr trauen und es wäre auch von manchem Schuld- und Verantwortungsgefühl befreit.“
Wir könnten destruktive Mutter- Kind-Bindungen eher erkennen. Manche Psycholog*innen gehen von 40-70% problematischer Mutter- Kind- Beziehungen aus! Es wird plädiert uns nicht gegenseitig vorzuspielen, nur perfekte Mütter zu sein. Damit Mütter sich mit ihren Problemen nicht als „moralisch verwerflich“ fühlen oder „nicht normal“. In einer ehrlichen Gesellschaft müssten Mütter ihre Probleme nicht verstecken und könnten (teilweise) die Verantwortung für das Kind abgeben.
„Kinder profitieren im Allgemeinen von einer weniger mutterzentrierten Erziehung, weniger Abhängigkeit und mehreren konstanten Bezugspersonen. Sie erhalten mehr Geborgenheit wenn sich mehr als eine Person um sie kümmert und für sie sorgt. Sie haben die Chance, Vertrauen in verschiedene Menschen zu entwickeln,(…) sind weniger isoliert und haben weniger Verlustängste und würden im Fall unzureichender Bemutterung nicht in ein „Fürsorgevakuum“ fallen, indem sich jemand für sie zuständig fühlt.“
Inhaltlich etwas kurz, werden am Ende die Voraussetzungen, Widerstände und Hindernisse kurz angesprochen, die dem Verzicht auf Muttermythen zugrunde liegen. Hier heißt es vereinfacht, Frauen werden weiterhin dahingehend erzogen, ihre Erfüllung in der Familie zu finden, während sich Männer weiterhin eher mit ihrem Beruf identifizieren. Hierzu sagt Gschwend:
„Das ist bedauerlich, nicht nur für die Kinder, sondern auch für das Gesamte der Gesellschaft.“
Väter müssen sich also in der Verantwortung in der Familie sehen und Frauen müssen ihr Machtmonopol über die Kinder abgeben. Frauen sind hier weiterhin ambivalent. Sie möchten berufstätig sein, aber gleichzeitig Vollzeitmutter bleiben. Gschwend appelliert, es müsse weiterhin an einem Ausbau der Kinderbetreuung gearbeitet werden und die Arbeitsbedingungen für Betreuer*innen müssen verbessert werden.
„Die Idee einer kollektiven sozialen Verantwortung für Kinder ernst zu nehmen, würde natürlich dazu führen, die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung zu ändern und die Arbeits- und Familienwelt umzugestalten.“
Diese Forderungen sind nichts Neues. Ich habe mir hier einfach mehr (zuviel?) erwartet. Vielleicht eine psychologische Erklärung, warum Archetypen so stark unser Bild von uns selbst prägen, oder ähnliches. Aber vielleicht ist es an uns, die Hindernisse, warum wir selbst unbewusst am Muttermythos festhalten, während wir diesem gar nicht gerecht werden können, individuell heraus zu kristallisieren und den Weg zu funktionierenden, alternativen Familien Modellen zu ebnen. Lasst uns endlich ehrlich sein, für uns selbst und um unserer Kinder willen.
*Mythos: kollektive (und irrationale) Vorstellung, die etwas erklärt/verspricht, der man aber kaum Glauben schenkt.
** Archetypen: beeinflussen kollektiv das Unbewusste. Sie sind Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster
Gaby Gschwend: Mütter ohne Liebe. Huber Verlag. Erstveröffentlichung 2009
Beitragsbild: Buchcover, (c) Huber Verlag
Beitrag erschienen in: Gespenster
Hört sich ganz interessant an, das Buch. Kaufe ich mir wahrscheinlich.
total klasse. ich bin fotografin und setze mich omentan mit dieser thematik fotografisch auseinander