Monster Migräne und Mutterschaft. Ein Erfahrungsbericht.

Muttermythen

von Cornelia
Nicht bewegen.
Die Hände fest gegen die Stirn drücken.
Den Schmerz veratmen.
Vielleicht kann ich mich in Gedanken wegträumen. Es pocht und sticht. Es zertrümmert mich. Bitte, Tablette, wirke endlich. Vor dem Fenster, der Lärm. Das Licht. Ich brauche mehr Kissen auf den Augen. Aber ich kann mich nicht bewegen. Nur nicht bewegen. Diese Übelkeit. Der Schüttelfrost. Andauernd Harndrang. Muss ich mich übergeben? Nicht noch einmal. Atmen. Das “Wieso ich?” bäumt sich in mir auf. Nicht jetzt. Atmen. Bitte, Tablette, wirke endlich. Bitte!
Nicht bewegen.
Die Hände fest gegen die Stirn drücken.
Den Schmerz veratmen. Atmen.
Mama?” Das Kind. Es will weiterfernsehen, irgendetwas funktioniert nicht.
Ich kann nicht sprechen. Tränen schießen mir in die Augen. Irgendwie. Nur eine Minute funktionieren.

Bild (c) Cornelia


Ich habe Migräne [1], manchmal mit Aura, also mit zusätzlichen neurologischen Symptomen wie Sichtfeldeinschränkungen und Schwierigkeiten beim Sprechen, seit der Pubertät. Ich kann sehr gut damit umgehen, da ich die Symptome oft schon Tage vor einer Attacke erkenne, oft gegensteuern und meine Medikamente punktgenau einnehmen kann. Das war ein weiter Weg. Ich zittere vor wichtigen Terminen. Stelle Wecker mitten in der Nacht, um im Fall des Falles eine Tablette nehmen zu können.
Ich bin immer auf der Hut.
Wenn die Medikamenten wirken, spüre ich zumindest kaum oder keine Schmerzen. Ich merke, dass ich emotional labil bin, fühle mich nicht voll leistungsfähig und schwach, aber Menschen, die mich nicht gut kennen fällt nichts auf – und im Berufsleben drücke ich auch anstrengende Tage durch. Adrenalin und Stress helfen sogar eine Attacke hinauszuzögern. Das Desaster kommt dann meist abends oder am Wochenende. Dann also, wenn ich Freundin und Mutter sein mag und letzteres manchmal eben auch sein muss.
Die abwesende Mutter
Manchmal helfen alle Maßnahmen nichts und der Migräne-Anfall kann nicht durch Tabletten eingedämmt werden. Ich fühle mich dann oft wie paralysiert. Kann mich kaum bewegen, kaum sprechen. Nicht denken. Übelkeit, Erbrechen. Unerträgliche Schmerzen. Verzweiflung. Die Fälle, in denen ärztliche Hilfe notwendig waren, sind glücklicherweise an zwei Händen abzuzählen. Der akute Zustand zieht sich über Stunden hin.
Da ist kein Platz für ein Kind. Aber so ein Kind ist eben da.
Glücklicherweise ist in vielen Fällen der Vater des Kindes ebenfalls da – oder zumindest rasch zur Stelle, um die Betreuung der Tochter zu übernehmen. Es ist schwer zu erklären, warum ich es nicht schaffe, eine andere Betreuungslösung zu organisieren, wenn das nicht der Fall ist. Einen simplen Anruf tätigen, kann ich während eines Migräneanfalls meist nicht mehr. Die Vorstellung, die Haustüre zu öffnen und die Babysitterin zu instruieren, ist ein Albtraum. (Denn: Meistens setzt die Wirkung des Medikamentes recht unerwartet nicht ein. Nachdem ich sehr häufig Migräne habe, kann ich freilich nicht jeden zweiten oder dritten Tag auf Verdacht eine Freundin, meine Schwester oder die Babysitterin organisieren. Im Notfall ist es dann leider zu spät dafür. Passiert es außerhalb der Wohnung, bin ich froh, mich und das Kind heil nach Hause zu schleppen.)
Dass das Kind mich in dieser Situation – schmerzgekrümmt oder über einem Eimer oder dem Klo mich übergebend – sehen muss, ist auch ein Albtraum. Es ist verängstigt. Manchmal wütend. Irritiert. Es wendet sich dann teilweise im Nachhinein von mir als Vertrauensperson ab.
Im ersten Halbjahr heuer war meine Migräne vorübergehend chronisch. Das bedeutet, ich hatte unterm Strich fast mehr Kopfweh-Tage als schmerzfreie Tage. Das waren zum Teil latente Schmerzen, keine grauenvollen, aber stets präsente. Ich war deswegen ein sehr gereiztes und ungeduldiges Elternteil. Gemeinsame Unternehmungen fielen ins Wasser, wir mussten viel umorganisieren und die Situation war, auch aufgrund anderer Umstände, mehr als schwierig.
Die kranke Mutter

Bild (c) Cornelia


Ich verbrachte meine Kinderbetreuungszeiten mit Migräne im Bett. Ich verbrachte meine Freizeit mit Migräne im Bett. Ich verbrachte unsere Wochenenden im Bett. Ich verbrachte meine eigentlichen Arbeitszeiten im Bett. Der Freund sprang für mich ein und ein und ein und ein.
Hast du heute Kopfweh, Mama?” Die Frage am Frühstückstisch gehörte schon zum Standardrepertoire des Kindes. Es war deprimierend.
Die kranke Mutter
Wenn sich der Schmerz bemerkbar macht, weiß ich: Eigentlich sollte ich mich ins Bett legen. Ruhe. Ich weiß aber auch, dass sofortige Entspannung oft das genaue Gegenteil bewirken kann. Dieser Zusammenhang passt mir ganz gut. Ein bisschen will ich der Krankheit trotzen. Eine Tablette nehmen, mich kurz zurücklehnen und weitermachen. Mich nicht einschränken lassen. So wenig wie möglich einschränken lassen. Bis zum nächsten Zusammenbruch, bei dem ich ohnehin völlig in die Knie gezwungen werde. Bis mein Körper von Schmerzen besetzt und von der fremden Macht in Besitz genommen ist …
Aber wenn und solange ich die Kontrolle behalten kann, dann tue ich das. Heimlich die Medizin nehmen. Vor und von dem Kind eine halbstündige oder einstündige Auszeit erbitten. Oder vor dem Freund. Oder einer anderen lieben Person, die anwesend oder greifbar ist.
Und wenn niemand da ist. Irgendwiedahinwurschteln.
“Babysitter” Fernseher. Ich liebe dich.
Pickige Nascherei (und Coffee-to-Go) in der Ein-Quadrat-Meter-Bäckerei neben dem Kindergarten für eine Pause zwischen Abholsituation und Heimweg. Ich liebe dich.
Smartphone mit all deinen tollen Kinder-Apps. Ich liebe dich.
Ich weiß, dass ich deswegen kein schlechtes Gewissen haben brauche. Trotzdem.
Trotzdem würde ich meinem Kind eine Mutter wünschen, die manchmal ein bisschen weniger oft sagen müsste: “Bitte, kannst du mich ein bisschen ausruhen lassen, mein Kopf tut so weh.” Oder: “Noch eine halbe Stunde bleibe ich liegen, dann bin ich bei dir.” Und schon gar nicht: “Ich habe für dein Getue heute keine Nerven. Mir geht es den ganzen Tag schon schlecht. Lass mich.”
Immerhin. Die Migräne mahnt mich, jeden Moment mit dem Kind zu genießen (in der Theorie). Morgen könnte nicht nur das Wetter schon wieder schlecht(er) sein, sondern auch mein Zustand entsprechend.
Die grantige Mutter
Das persönliche Leiden, der manchmal schwer erträgliche Umgang mit den Schmerzen im Leben, die viel zu vielen ungefragten Ratschläge und das nicht-gewollte Mitleid – das ist die eine Seite der Krankheit. Die andere Seite als Mutter ist meine Garstigkeit, die bisweilen daraus entsteht. Ich will so nicht zu meinem Kind sein. Aber wenn ich tagelang oder, wie es in diesem Ausnahmehalbjahr war, wochenlang unproduktiv und leidend herumvegetiere, dann bleibt keine Geduld mehr für Geduldsproben beim Haarewaschen, Zähneputzen oder Jausnen. Dann habe ich keine Nerven mehr für Diskussionen über Verlängerungen des Spielplatzbesuches oder eine zusätzliches Zimtschnecke. Dann kann ich beim Bettgehprozedere keine zusätzliche Minute mehr ertragen. Dann bleibt nur mehr Schimpfen, Zettern und manchmal Weinen.
Immer wieder aufs Neue die Situation erklären und mich gegebenenfalls für grantiges Verhalten entschuldigen. Das ist ermüdend. Für uns alle. Aber einen anderen Weg sehe ich nicht.
Und es traurig und schön zugleich finden, welch wunderbare Trösterin das kleine-große Kind schon geworden ist: “Hast du wieder Kopfweh, Mama? Dieses blöde Kopfweh immer. Aber mach dir keine Sorgen, bald ist alles wieder gut.


[1] Anm.: Der Link führt zu dem englischsprachigen Artikel “8 Things Everyone Needs to Know About Migraine”. Migräne wird in dem Beitrag so gut beschrieben, wie ich es nie zuvor – schon gar nicht auf einer deutschsprachigen Informationsseite oder in Infobroschüren, die in Schmerz- und Migräneambulanzen aufliegen – gelesen habe. Ich empfehle den Artikel vor allem Angehörigen von Betroffenen. Aber auch für mich war es tatsächlich befreiend, vermeintlich individuelle Empfindungen und im Laufe der mittlerweile mehr als 15-jährigen Leidensgeschichte immer wieder auch von ärztlicher Seite nicht ernst genommene Symptome und die vielfach als “starkes Kopfweh” heruntergespielte Krankheit so klar niedergeschrieben dargestellt zu lesen.
Dieser Beitrag ist erschienen in: gespenster.

7 Replies to “Monster Migräne und Mutterschaft. Ein Erfahrungsbericht.”

  1. pitz sagt:

    sehr interessant, ich wusste das gar nicht so genau, danke. und dass die geduld dann fehlt, ist doch nur logisch.

  2. vielen lieben dank für diesen text! ich selbst leide auch unter der von dir beschriebenen migräne, allerdings viel seltener. du hast all meine guten gedanken und meine bewunderung! wie du es schaffst, den alltag zu meistern… unglaublich! danke auch für den link, den ich sehr gut brauchen kann. viel zu oft fühle ich mich unverstanden.

  3. Die da sagt:

    Ich habe den Beitrag gerade gefunden. Könnte von mir sein…die Schmerzen ,die Nerven, die Einschränkungen, die Aura….ich leide auch an Migräne…zu Beginn des Jahres hatte sich meine Migräne nach einem Jobwechsel gebessert: von 16×pro Monat auf 2-3x pro Monat. Ich bin jetzt in der 14. ten Schwangerschaftswoche mit Zwillingen und liege seit 2 wochen mit Migräne im Bett…(2Tage davon waren Migränefrei). Ich habe mittlerweile solche Angst,dass es mir genauso geht wie der Autorin….hatte gehofft, ich sei die eine der glücklich wenigen,bei denen die Migräne bei der Schwangerschaft verschwindet…Pustekuchen!

  4. Mamamulle sagt:

    So hart! Ich hatte erst einmal Migräne, aber weiß genau wie du dich fühlst, da ich auch Kinder habe. Habe in meinem letzten Artikel auf diesen Beitrag verlinkt.

  5. […] gut wiedergibt, denn genauso und nicht anders habe ich es empfunden. Auch sehr gut trifft es dieser Artikel einer leidenden Mutter. Das ist echt […]

  6. […] beispiel diesen text über migräne und mutterschaft. er kommt genau im richtigen moment, ich sitze da und lese und nicke und nicke. fast könnte man […]

  7. Moorige sagt:

    Danke für diesen emotionalen Bericht. Mein Partner hat die Migräne, die du beschreibst. Mir selbst fällt es oft schwer, Verständnis dafür aufzubringen, wenn er schon wieder im Bett liegt, schon wieder das Kissen auf dem Kopf hat, schon wieder rumjammert. Zumal er auch so ungern darüber redet (trigger). Unser dreijähriger Sohn hat schon mehrere Anfälle mitbekommen. Ich glaube, es belastet ihn sehr. Ich muss es ihm noch besser erklären. Und dafür selber besser verstehen, was da abgeht. Dein Artikel wird mir vielleicht dabei helfen. Alles gute dir und deiner Familie!

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