Ich und du und unser großes düsteres Haustier. Ein Versuch über Mütter mit Depressionen und ihre Kinder.

Muttermythen

von Pitz und Thilda
Ich sitze am Boden, die Beine fest an den Körper gezogen, mit den Armen umschlungen, den Kopf vergraben, verigelt, und weine. Die Tränen fließen ohne mein Zutun wie wild gewordene Gebirgsbäche in meine Höhle. Ich spüre nichts als Trauer und Wut. Unverständnis. Was ist nur passiert? Wo ist mein Leben hin? Meine Freude und Energie? Meine Visionen und Ideen? Meine Wünsche und Träume? In welch grauenhafter Realität befinde ich mich plötzlich? Was habe ich nur falsch gemacht? Oder ist es doch nur ein Alptraum, eine Wahrnehmungsstörung, ein grauer Schein? Ich muss mich spüren, zurück bringen in das wahre Jetzt, muss Schmerz spüren um mich zu spüren, muss mich strafen für mein Verhalten, für das Leid, das ich all den Lieben um mich herum zufüge. Bilder, wie Blut den Arm herunterfließt, entstehen vor meinem Auge. Ich schlage den Kopf gegen die Wand. Die Bilder bleiben, aber ich spüre zumindest meinen Körper, hier, jetzt. Leider.
Ein Abend am Küchentisch, draußen ist es schon dunkel. Die Küchenlampe strahlt gemütlich das Abendbrot an, du lehnst am Fensterbrett, ich dir gegenüber im Türrahmen. Du stellst fest, dass eine Fischkonserve schlecht geworden ist. Stell sie doch weg, sagt mein Vater. Nein, ich muss das essen, sagst du. Der Fisch hat was gekostet. Und nimmst einen Bissen, mit sichtbarem Ekel im Gesicht. Nein!, ruft mein Vater, dir wird doch schlecht!, und Nein, bitte nicht, Mutti!, rufe ich. Ich muss das essen, sagst du kopfschüttelnd. Du isst, die Gabel scharrt auf dem Grund der goldschillernden Konserve. Mit offenem Mund stehe ich da, und was in diesem Moment in mich einsickert, das hat keinen Boden. Angst, Ekel, Mitleid, Zersetzung. Der Gedanke, dass frau sich bewusst Schaden zufügen kann. Dass ein Mensch, den ich liebe, mich verletzt, indem er bzw. sie sich selbst verletzt. Dass ich mir selber schaden darf, wenn ich will. Dass wir vielleicht wirklich, wirklich sparen müssen, dass ich davon aber auch wieder nichts wissen darf, da zu klein. Dass ich mir selber schaden muss, um ein gutes Kind zu sein, um meiner Mutter zu folgen. Dass sie verloren ist, denn ich kann sie nicht zurückhalten, und dass ich selbst verloren bin, wenn sie es ist. Wer sonst sollte sie oder mich retten? Mein Vater steht daneben. Das Licht der Küchenlampe ist heimelig, und die selbstgenähten Gardinen mit dem niedlichen blau-weißen Herzmuster, die sauberen Oberflächen. Der Boden ist so sauber geschrubbt, dass wir alle zusammen den verdorbenen Fisch auch direkt vom Linoleum essen könnten.
Ich sehe in den Spiegel und hasse mich, ekle mich, schäme mich. Ich hasse mein Gesicht mit den tiefen schwarzen Augenringen, meine matten ausdruckslosen Augen, meine fahle Haut, meinen Körper, meine Größe, meine Haare, mein Traurigkeit, meine Unfähigkeit, endlich einfach wieder zu sein und zu leben. Hass, Ekel, Scham? Kann man sich ekeln, ohne zu hassen? Was haben diese Männer mit mir gemacht, dass solch abgründige Gefühle gegen mich selbst haben aufkeimen können? Hasse ich insbesondere die beiden Menschen, die mir diesen Ekel aufgeklebt haben? Diese beiden Männer, die ihre körperliche Lust und Gier an meinem kindlichen Körper ausgelebt haben? Wie soll ich diesen Körper lieben, wenn er mich nicht beschützt hat? Er wurde beschmutzt und ich schäme mich. Ich schäme mich, dass ich nicht stark genug war, meinen Körper zu nutzen, um zu rennen, zu treten, zu schreien, wegzurennen von diesen Menschen, die ein Kind benutzen, um ihre Triebe auszuleben, die narzisstisch und egoistisch ausagieren und ganz nebenbei so unendlich viel zerstören. Ich war stumm, gelähmt, ohnmächtig. Viele Jahre der Lautlosigkeit, des Bewahrens und des Vergrabens in meiner Seele haben dieses Geschwür der Depression in mir heranwachsen lassen. Lange habe ich gebraucht, um überhaupt einen Zusammenhang zu sehen, zuzulassen, zu akzeptieren, zwischen diesen Männern und meiner nicht existenten Selbstliebe. Es war so normal für mich, zu hassen, nicht in den Spiegel zu sehen, mich nicht einzucremen, um mich nicht anfassen zu müssen, viel Badeschaum in die Wanne zu geben, um mich nicht ansehen zu müssen, dunkle weite Kleidung zu tragen, um mich nicht spüren zu müssen, zu hungern, zu fressen, zu kotzen, zu saufen, betäuben, wegsehen, nicht spüren müssen.
Von allen Kindern, die ich kannte, von allen Menschen, die ich heute kenne, habe ich mit
Abstand die schönste Mutter. Dein Haar große, blasse Wellen, deine Nase sagenhaft elegant und eine kühne Ansage, die Augen riesengroß und hellgrün, nicht strahlend, sondern sehr sanft. Sie erinnerten mich an die herrlichen, wunderbaren Momente mit dir. Du seiest nie damit zufrieden gewesen, antwortest du mit gebrochener Stimme. Das ist einer der letzten Sätze, die du je zu mir gesagt hast, als deine Stimme schon längst verholzt war. Er stammt aus dem kleinen Arsenal der Worte, die du in deinen letzten Jahren deinen Stimmbändern abgerungen hast und die ich wie Schätze hüte. Es ist auch eines der letzten Zeichen, dass du eine gesunde Portion Selbsthass so kultiviert hattest, dass du gar nicht mehr sahest, was ich mit meinem Kompliment an deine Augen meinte. Als du kurz darauf starbst, dachte ich, ich hätte zum letzten Mal eine solche Augenfarbe gesehen. Dann kam der Herbst. Der Winter. Ein neues Jahr. Irgendwann färbten sich die großen, runden Augen meines Babys grün. Ein lichtes, feines Grün. Dem Kind wuchsen riesige, trockene, blassblonde Locken. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Es war vernichtend, es trieb mir Schnee in die Augen, gleichzeitig war ich dankbar, und ich befahl mir, dass es mir gleich sein müsse. Ich versuchte, wie vorher auf dem Sofa zu sitzen und in der Küche zu stehen. Ich dachte: das Kind weiß ja nichts davon. Wenn mir die Kinder sagen, wie schön sie mich finden – das ist schwer zu beschreiben, das ist wie Hagel und Getreide.
Ich hatte immer viele Freundinnen und Freunde um mich herum. Ich habe ihre Gesellschaft genossen, bin gern abends zusammen gesessen, trinkend, quatschend, lachend. Von einem Tag auf den anderen waren sie mir alle zu viel. Am liebsten hätte ich mich vollständig eingeigelt in meiner mir so fremden neuen Realität. Ganz allein wollte ich sein. Allein, in Ruhe gelassen werden, Ruhe, keinen Lärm hören müssen, keine Gespräche, keine Ratschläge, kein Lachen, bei dem ich nicht mitlachen konnte. Ich lebte plötzlich in einer Parallelwelt, die nur für mich existent zu sein schien. Nicht für meinen Mann, nicht für meine Kinder, nicht für meine Freunde. Wir treffen uns morgen Abend, hast Du Lust? Magst Du auf nen Kaffee vorbei kommen? Wollen wir spazieren gehen? NEIN, und ich schäme mich dafür. Ich ahne, wie verletzend ich bin, und komme doch nicht gegen diesen Sog der Schwermut an. Habt bitte Geduld mit mir und verzeiht meine Ablehnung. Es liegt an mir und niemals an Euch.
Du hast keine Freundinnen gehabt. Geschrieben hast du dich einmal pro Woche mit deiner Mutter. Sonst: nichts. Niemand. Keine Erzählungen von früher. Dritte tauchen in deinen Reden höchstens als Referenzobjekte für Scham auf, etwa, wenn nicht alles in perfektem Zustand ist. Nach deinem Tod erzählt mir deine Kindheitsfreundin, wie schön, wie wunderschön ihr es hattet, als ihr Kinder wart. Ich solle bei ihr vorbeikommen, sie könne mir so viele tolle Geschichten über dich erzählen. Über wen redet sie da, frage ich mich. Meine Scham, dass diese Kindheitsfreundin wohl eine andere Person kannte und ich so gar nicht weiß, wie ich ihre Worte über dich in mein Bild von dir einfügen soll.
Morgens treffen traurige Kinderaugen forschend die meinen. Warum bist Du so traurig, Mama? Bin ich schuld? War ich wieder zu anstrengend? Bist Du wegen mir so traurig? Ich sage, und die Worte fallen mir aus dem Mund: Nein, mein liebes Kind. Niemals nie bin ich wegen Dir so traurig. Du bist meine Nabelschnur, die mich am Leben hält. Nur, wie soll ich Dir nur erklären, was mit mir passiert? Ich kann es selbst kaum begreifen. Ich möchte Deine zarte Seele nicht verletzen. Vermutlich aber habe ich das sowieso bereits getan und Du hast ein Recht darauf zu erfahren, was mit Deiner Mama los ist. Warum sie plötzlich immer so traurig ist, warum sie nicht mehr aus dem Haus geht, nicht mehr arbeitet, warum für sie immer alles zu laut ist, sie so viel weint, sie so unglücklich ist, obwohl es doch gar keinen für Dich ersichtlichen Grund dafür gibt. Du glaubst, Du seiest daran schuld. Du glaubst, Du seiest zu wild, zu anstrengend, zu nervig. Das müsse der Grund für die Krankheit sein. Du hast das Gefühl, nicht richtig zu sein. Du möchtest Dich anstrengen und ein gutes, ein viel besseres Kind werden. Doch Du bist bereits ein gutes Kind. So wie Du bist, bist Du das Beste, das sich eine Mutter wünschen könnte, das Beste, das ich mir vorstellen kann. Ich hoffe, Du glaubst mir, wenn ich Dir sage, dass das alles nichts mit Dir zu tun hat. Ich habe eine Krankheit, eine Krankheit, die meine Seele traurig macht, ohne Grund. Es fühlt sich an, als ob die Welt für mich plötzlich farblos geworden ist. Alle Geräusche höre ich viel lauter als vorher. Ich fühle mich schwach und müde. Oft viel zu müde, um mit Dir etwas zu unternehmen, Dir Geschichten vorzulesen, Freundinnen einzuladen. Manchmal auch zu müde um zu leben. Aber mein Lebensfunke erlischt niemals, solang ich so großartige Kinder an meiner Seite habe, für die es sich lohnt zu kämpfen!
Was mit dir ist, wusste ich nicht. Noch nicht einmal, dass etwas mit dir ist. Ich dachte, alle Mütter äßen Verdorbenes, zählten ihre Heimgymnastikrunden mit Pillen, seien so geizig, dass sie die leere Zahnpastatube aufschnitten und von den Resten sich tagelang die Zähne putzen. Dass sie, sobald die Florenadose leer war, sich eine zeitlang mit den Cremeresten auf der beschichteten Alufolie eincremen würden und sich damit die Haut wundrieben. Dass sie isoliert lebten, nie von sich erzählten und von Zeit zu Zeit wortlos, einfach so, die Wohnung verließen und wortlos wiederkämen, weil am Rand ihrer unbekannten Wege keine Worte für sie lagen. Ich dachte, ich sei die Verrückte, weil ich bei all diesen Beobachtungen mein Ich jaulen hörte, dass es mir vor mir selber peinlich war. Die Erkenntnis, dass du es warst, der es nicht gut ging, dass du in den Wochen deiner mysteriösen Abwesenheit in einer Nervenklinik warst und nicht in einer Herzklinik, wie mir gesagt wurde – das war für mich eine kopernikanische Wende. Seitdem habe ich die Füße auf dem Boden und den Kopf zum Denken. Seidem bin ich nicht mehr das Kind, das kopfunter am Fleischerhaken hängend in die Schule geht und einfach nicht versteht, was mit ihm selbst und der Welt da draußen einfach nicht hinhaut.


Beitragsbild (c) Abby Kroke
Beitrag erschienen in: Beziehungsweise.

6 Replies to “Ich und du und unser großes düsteres Haustier. Ein Versuch über Mütter mit Depressionen und ihre Kinder.”

  1. pitz sagt:

    Hat dies auf Pitz rebloggt und kommentierte:
    Hier ein Text,den ich neulich mit Thilda für umstandslos gemacht habe. Die perfekte Zusammenarbeit, in vielerlei Hinsicht. Es gab Rauch und Funken, während wir schrieben.

  2. berit sagt:

    Ein starker Text, der mich wortlos zurück lässt.

  3. serialmel sagt:

    Es ist Traurigkeitskrankheit sage ich den meinen. Sie verstehen es nicht. Ich fühle mich schuldig.

  4. Viviane sagt:

    Hätte mir noch eine Triggerwarnung in Richtung sex. Gewalt gewünscht, damit es eine_n nicht so unvorbereitet umhaut.

  5. s. sagt:

    guter text. kinder vertragen die wahrheit. dann wird es oft einfacher dinge einzuordnen. und es nimmt die schuld von ihnen. die sie sich ohnehin geben.

  6. […] aus dem Blickfeld oder werden lediglich bemitleidet. Für schwere, differenzierte, schmerzhafte, düstere, wütende und missgelaunte – aber so wichtige! – Gedanken ist wenig Platz an der Sonne. […]

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