von Mareice
Oktober 2009
Schon 21 Uhr und noch immer sitze ich im Büro! Dreizehn Stunden Arbeit liegen hinter mir, nur eine kurze Mittagspause war drin. Das Video musste fertig werden, es musste unbedingt heute noch online gehen. Jetzt ist es auf der Website, nach zwei Stunden schon über 5.000 Zugriffe, cool. Diesen Freitagabend habe ich mir verdient! Ich habe die Wahl: Vernissage, Bareröffnung oder Konzert. Aber erstmal Zeit für einen Drink in der Kneipe um die Ecke. Danach zieh ich weiter durch die Berliner Clubs, in meinem Kiez kenne ich jeden Laden. Ich komme selten allein nach Hause und meist erst dann, wenn die Vögel zwitschern. Aspirin und Augen zu.
Oktober 2010
Ich gehe aus mit T., er ist jetzt mein Freund. Nach einer langen rastlosen Zeit ist er mein Anker, mein Zuhause geworden. Alles fühlt sich gut und richtig an. Auch die Entscheidung, von Berlin nach Hamburg zu ziehen. Wegen der Jobs und: wegen der Liebe zu T. Er ist das Gegenteil von mir, von meinem Beuteschema, vielleicht passt es genau deshalb so gut. Einfach ist es nicht immer, aber inspirierend. Wir gehen gemeinsam aus, wir machen zusammen Musik, wir produzieren eine Radiosendung – und gehen uns dabei nur äußerst selten auf die Nerven. Heute stehen wir zusammen auf der Bühne, ich singe mit seiner Band. Unsere Freunde sind da, ich lache und trinke. Ich fühle mich. Wir knutschen. Spät in der Nacht steht T. auf der Bühne und bittet mich, seine Frau zu werden. Ich rufe: „Ja!“
Oktober 2011
Sie ist da, unsere erste Tochter, aber ich kann sie nicht sehen. Nach einer Einleitung, acht Stunden Wehen und einer PDA habe ich sie auf die Welt gepresst. Keine Sekunde war sie da, schon schrie die Ärztin: „Sie muss weg!“. Panik in den Augen. Jetzt weint T., ich auch. Die Nacht habe ich mit Schreien, Tönen, Lachen und Gebären verbracht. Nun wird es langsam hell, die Vögel zwitschern. In mir zwitschert nichts, nur der Gedanke: „Ist sie tot?“ Drei Stunden später sehe ich meine erste Tochter in einem gläsernen Kasten, vergraben unter Kabeln und Schläuchen. G. lebt.
Oktober 2012
T. und ich wollen schlafen gehen, endlich mal zu einer Zeit, in der normale Menschen ins Bett gehen. Einen Tag-Nacht-Rhythmus haben wir seit einem Jahr nicht mehr. G. macht uns einen Strich durch die Rechnung: Sie hat sich die Magensonde wieder aus der Nase gezogen. Ich weine vor Erschöpfung. Ich habe keine Kraft für den Weg zum Krankenhaus, in dem wir das vergangene Jahr mehr Nächte verbracht haben als zu Hause. Vor allem habe ich keine Kraft für die Prozedur des Einführens einer neuen Sonde. Meine Tochter weint jedes Mal fürchterlich, meistens würgt sie sie wieder raus. Auch T. ist zu erschöpft. Er ist heute Nachmittag im Gespräch mit der Psychologin, die uns seit der Geburt unserer Tochter begleitet, eingeschlafen. Mitten im Gespräch. Ein Jahr Intensivpflege von G. haben bei T. und mir Spuren hinterlassen. Wir schreien uns an. Dann weinen wir und beschließen, zu schlafen. G. trinkt mittlerweile schon ein paar Milliliter Milch pro Mahlzeit selbst, sie wird also in der einen Nacht nicht verhungern. Während ich noch für G. Muttermilch abpumpe, schnarcht T. bereits neben mir. Ein paar Stunden später werden wir von G. aufgeweckt, die sich übergibt. Sie braucht schon wieder eine Darmspülung, T. übernimmt. Ich pumpe Muttermilch ab, während ich T. und G. weinen höre.
Oktober 2013
Die erste Nacht in der neuen Wohnung, wieder zurück in Berlin. Hier wollen wir noch mal neu anfangen, die Hamburger Krankenhaustage und –Nächte hinter uns lassen. Alles riecht noch neu und neu ist auch, dass G. nicht mehr mit uns in einem Zimmer schläft, sondern nebenan. Wenn der Monitor piepst, der den Sauerstoffgehalt ihres Blutes überprüft, hören T. und ich ihn durch die geöffnete Tür. Der Monitor piepst oft. T. kümmert sich dann, die Pflege unserer Tochter übernimmt seit einem halben Jahr mehr denn je er. In G.s altem Bett liegt seitdem ihre kleine Schwester K. Sie ist erst ein halbes Jahr und hat in diesem Zeitrum schon mehr Muttermilch getrunken als ihre Schwester in ihrem ganzen Leben. Die Rollen sind klar verteilt: T. kümmert sich um G., ich kümmere mich um K. Schlaf bekommen wir beide kaum und wenn, dann nicht länger als drei Stunden am Stück. T. ist beschäftigt mit Darmspülungen, Kacke und Kotze. Ich bin beschäftigt mit blutenden Brustwarzen, Stillhütchen und Hormonen. T. und ich schlafen selten in einem Bett, manchmal schläft er erschöpft vor G.s Pflegebett ein. Ohne Decke, ohne Kopfkissen.
Oktober 2014
J. klingelt, es ist 21 Uhr. Sie freut sich, G. zu sehen und ich freue mich, dass sie da ist. J. ist Krankenschwester und wird die kommenden zehn Stunden im Zimmer meiner Tochter verbringen. Wenn G.s Monitor piepst, verändert sie G.s Lage oder gibt ihr zusätzlichen Sauerstoff. Sie inhaliert mit G. , sie füttert G., sie spielt mit G. Im besten Fall schaut sie unserer Tochter beim Schlafen zu. Einen passablen Tag-Nacht-Rhythmus hat G., die mittlerweile als taubblind gilt, noch nicht entwickelt. Aber es wird besser. T. und ich schreien nicht mehr so viel, weil wir nachts schlafen können. Immerhin so lange wie K. uns lässt – meistens mehr als drei Stunden am Stück. Wenn ich nachts auf Toilette gehe und an G.s Zimmer vorbei muss, fühlt es sich noch immer komisch an, dass dort eine fremde Person auf meine Tochter aufpasst. Gerade in der intimen Atmosphäre der Nacht. Wenn aber die Alternative ist, getrennt von meiner Tochter zu leben, lebe ich lieber mit diesem Kompromiss. Seitdem J. und ihre Kolleginnen vom Pflegedienst nachts auf G. aufpassen, habe ich auch endlich mal wieder eine Nacht außerhalb der Wohnung verbracht. Nach drei Jahren waren T. und ich mal wieder zusammen aus, bei einem Konzert. Wir haben geknutscht. Ich habe mich gefühlt.
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Mareice lebt als freie Autorin in Berlin, ist heterosexuell verheiratet und hat zwei Töchter, mit und ohne Behinderung. Die Genehmigung der Krankenkasse für den Pflegedienst ihrer Tochter kostete sie mehrere Anträge, zwei Widersprüche, viele Nerven und einige graue Haare. Das Kaiserinnenreich ist ihr inklusives Familienblog.
Erschienen in: des nächtens.
Der Link zum Kaiserinnenreich funktioniert nicht
Danke! Ist repariert…
Liebe Kaiserin,
mitten ins Herz getroffen, danke fürs teilen eurer Geschichte!
Ebenfalls mitten ins Herz. Einerseits fühl ich mit dir ab 2011 und wünsch dir alle erdenkliche Kraft und ziehe meinen Hut vor dir. Gleichzeitig muss ich bei 2009/2010 daran denken: ach, da war ja noch was. Wann haben ich und A. eigentlich das letzte Mal zusammen Musik gemacht, wann waren wir das letzte Mal aus ohne schlechtem Gewissen, wann waren wir das letzte Mal so richtig Paar? – Hab letztens eine Werbeanfrage für diese Webserie Mann/Frau bekommen und mir gedacht “Großstadtsingles”….tja, Luxusprobleme. Doch ich vermiss es schon, das Ungewisse, das Risikoreiche…und nicht Verantwortung tragende in Kombi mit ner Wolke 7 und sehne mir die Diagonale (Filmfestspiele in meiner Stadt) herbei.
nasse augen bei der erinnerung an die zeit mit dem baby auf der intensiv, an das piepsen der geräte und die milchpumpe, an die verzwiflung, wenn die nahrung nicht drin blieb, an die erschöpfung. es ist 11 jahre her und trotzdem.
danke und alles gute euch!
Hallo Mareice,
wir haben neben dem ganzen anderen Kram (Darmspülung, AP-Beutel kleben, Beatmung etc.) dann auch das Sondelegen selbst gelernt. Sonde war Mist und wir sind sie nach fast einem Jahr zum Glück auch losgeworden (zum Vollstillen… eine andere Geschichte) und Selberlegen hat mir auch im Herzen wehgetan, aber ich habe es gefühlvoller und hoffentlich weniger traumatisch hinbekommen, als die Pfleger, die mein Kind ja meist nur ein Mal die Sonde gelegt haben… ich wollte damit nur sagen: a) Du leistest Wunderbares! b) Man kann NG-Sonden auch selber legen und sich so unabhängig machen.
[…] Einen der schönsten Blogs zum Thema führt in meinen Augen Mareice, die ich weiter oben bereits kurz erwähnt hatte, mit dem Kaiserinnenreich, sie wurde dafür sogar als beste Newcomerin im Rahmen der Goldenen Blogger 2014 ausgezeichnet. Ich würde sie euch gerne vorstellen, aber sein wir ehrlich: In diesem Interview mit der Nido sagt sie so viel Kluges, Wahres und Schönes, dass meine Worte dahinter nur verblassen könnten. Ebenfalls sehr eindrucksvoll: Ihre letzten sechs Oktober. […]
[…] Ich hätte es mir gut und gerne ohne zusätzliche bürokratische Barrieren, Krankenhäuser und Pflegepersonal in meinen eigenen vier Wänden vorstellen können. Mittlerweile – Kaiserin 1 ist nun fast vier Jahre alt – habe ich mich an […]
[…] es mir gut und gerne ohne zusätzliche bürokratische Barrieren, Wochen in Krankenhäusern und Pflegepersonal in meinen eigenen vier Wänden vorstellen können. Mittlerweile – Kaiserin 1 ist nun fast vier Jahre alt – habe ich mich an […]