Von Catherine
Almut Schnerrig und Sascha Verlans Buch ist ein Plädoyer “Für eine Kindheit ohne Rollenklischees“. Die Rückseite verspricht, dass wir hier endlich lesen können, wie man “Rollenklischees im Familienalltag […] entkommt”. Nunja.
Auf knapp 230 Seiten arbeiten sich die AutorInnen durch das Kinderleben von deren Existenz im Bauch bis zum Teenageralter und zeigen dabei auf, welcher Unmenge an Rollenbildern, Klischees und Erwartungshaltungen Kinder hinsichtlich ihres Geschlechts jederzeit ausgesetzt sind. So werden quasi überall – im Kindergarten, in der Schule und bei der Freizeitgestaltung in Vereinen oder Spielgruppen – Erwartungen an die Kleinen und die weniger Kleinen herangetragen. Mädchen werden zu Schönheitswettbewerben geschickt, Jungs auf den Fussballplatz. Wenn sich doch mal ein Mädchen in eine Sportstätte verirrt, wird das von der Umwelt als Ausnahme, als Besonderheit markiert und somit klargemacht, dass hier Außergewöhnliches, Untypisches passiert. Schnerrig und Verlan können als Eltern dreier gemeinsamer Kinder auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen, um Irr- und Unsinn des Geschlechteraufteilungswahns zu illustrieren. Das wäre manchmal sogar lustig, würden die AutorInnen nicht gleichzeitig auf die desaströsen Folgen des Aufteilens von Menschen in die Kategorien “Mädchen” und “Junge” hinweisen. Hierfür bedienen sie sich zahlreicher Studien (auf die allesamt im Anhang ausführlich verwiesen wird), die auch gutgemeinte Versuche zur Auflösung von Grenzen, die durch Geschlechtszuschreibungen geschlossen werden, als fehlgeleitet entlarven. “Girl’s days” (für Ingenieursberufe) und “Boy’s days” (für Care-Berufe) dienen mitnichten der Öffnung der jeweiligen Berufszweige für Mädchen beziehungsweise Jungs, sondern manifestieren Sterotypen.
Was diese, gemacht von Werbung und scheinbarem gesellschaftlichen Konsens, in Kinder anrichten (können), ist teils grausig. Wie stark stereotype Zuschreibungen ausgrenzen, einschränken, verletzen, einengen und beschränken, wird im Buch sehr deutlich. Immer wieder wird auf Studien verwiesen, die die Limitierung der (gedanklichen) Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens durch die ständige Konfrontation mit Stereotypen hinsichtlich des Geschlechts klar belegen. Das Buch macht ganz klar, dass hier Handlungsbedarf besteht. Dies ist allerdings auch der einzige Wermutstropfen. Das Buch malt zwar ein gruseliges Bild, verspricht aber auch Lösungen und Aussichten gegen die allgegenwärtige und allumfassende Einteilung in “männlich” und “weiblich” mit festgeschriebenem Aufgaben- und Interessengebiet und ohne Grauzonen dazwischen vorzugehen.
Was die AutorInnen dann aber empfehlen, scheint bei der schieren Menge an eindeutigen Botschaften, die in Werbung, Film, Fernsehen, Büchern und Freundeskreis an die Kinder gesendet werden, fast lächerlich. Ein bisschen reden. Ein bisschen problematisieren. Und auch: Eigene Vorstellungen und Redeweisen hinterfragen, und den Kindern vorleben, dass Stereotypen nicht in Stein gemeißelt sind und das eigene Verhalten mitnichten bestimmen müssen. Teilweise scheint das ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber auch wenn dies alles ist, was Eltern machen können, so gibt “Die Rosa-Hellblau-Falle” einen wunderbaren Anlass, sich selbst in den Hintern zu treten, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen und Kindern zu erklären, dass all dies nicht so sein muss.
“Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees”. Von A. Schnerrig und S. Verlan. Erschienen 2014 im Verlag Antje Kunstmann. ISBN 9783888979385.
Das Rezensionsexemplar wurde uns vom Verlag zur Verfügung gestellt.
Hallo,
ich habe das Buch nicht gelesen, ich weiß nicht genau warum denn ich habe sehr viel über gendersensible Er_ziehung(!) und geschlechtergerechte Begleitung von Kindern gelesen. Einen Gedanken würde ich gerne formulieren. Es ist nicht immer ausreichend, zu schauen, wo überall “da draußen” Klischees und Stereotypisierungen auf Kinder warten. Es ist nicht (nur) die Pinkifizierung, die uns Angst machen sollte, sondern manchmal müssten wir eher auch ein wenig Angst vor uns selbst haben. Was ich damit meine ist, dass wir als Erwachsene und mit ebensolchen Privilegien ausgestattete Menschen, unsere eigene Doing Gender Praxis beständig reflektieren und achtsam gestalten müssen. Wir fragen uns, warum die Geschlechterverhältnisse nach wie vor (und von Kindesbeinen an) so hartnäckig aufrecht erhalten und vertreten werden (durch entsprechende Behandlung und Förderung von Kindern)? Fragen wir uns auch selbst, welche Beziehungen wir leben, welche Familienmodellle? Arbeiten wir unsere eigene Sozialisation auf und fragen uns, welche Botschaften (explizite oder verdeckte) wir (aus Versehen noch) vermitteln, an Kinder? Können wir Kindern Begegnungen mit Vielfalt ermöglichen, also mit echter Diversity im Sinne von Inklusion, wenn wir selbst eine heteronormative Kleinfamilie verkörpern_performen? Wie könnten wir, unabhängig von sexueller Orientierung, diese normativen Privilegien auflockern und “nonkonformes” vorleben und zum Alltag machen? Können wir Beziehung anders gestalten, Familie und Arbeit anders gestalten? Bei rosa-hellblau Diksussionen dürfen wir auch nicht vergessen, dass Jungen es gesellschaftlich, in Familien, Kitas und Schulen noch immer einfacher haben, als Mädchen*, es ist im kleinen nicht anders als im Großen, wir leben in einem androzentristischen System, was bedeutet, dass genau beobachtet werden und entsprechend interveniert muss_kann, wie Kinder unterschiedlich (auch von uns) angesprochen und sanktioniert oder gefördert werden (z.B. in Kitas und Familien). Anstatt limitierende Angebote_Farben in Kaufhäusern, müsste mehr Doing Gender in die Diskussion geholt werden.
danke für deinen kommentar. ich frage mich selber schon lange, wie ich – als teil einer heteronormativen kleinfamilie – “nonkonformes”, wie du schreibst, zum alltag machen kann. aber ich drehe mich im kreis und bleibe bei der frage: wie also? vielleicht hat jemand leseanregungen dazu?
Deine Forderung nach mehr Selbstreflexion finde ich berechtigt. Trotzdem verlangst du glaube ich mehr, als ich liefern kann. Letztlich stecke ich doch in meiner weissen Bildungsbuergerinnen-Heten-Kind-der-80er&90er-Haut und sicher noch vieles mehr. Verbal meinen Kindern klarzumachen, dass das nicht die einzige richtige Art ist zu sein/zu leben, finde ich noch relativ einfach, aber wenn’s um Vorleben desselben geht, seh ich ab einem gewissen Punkt nicht, wie ich das gut hinkriegen kann.
Eine Moeglichkeit, wie meine Kinder ueber meine eigenen Beschraenkungen hinausblicken koennten, ist wohl ueber ihre oder unsere (elterlichen) Freund_innen. Naja, ein Stueck weit habe ich Freund_innen, die nicht in dieselben Muster fallen wie ich, z.B. schwul sind, aber mit denen bin ich befreundet, weil ich sie halt gerne mag. Umgekehrt mich mit jemandem zu befreunden, bloss weil das meinem Kind andere Perspektiven zugaenglich macht, waere wohl ziemlich schraeg. Von daher geht es mir vielleicht aehnlich wie dir, aufZehenspitzen, das ich mich frage: Wie?
Ich kann verstehen, dass das nicht einfach ist und sich Fragen nach dem “wie” auftun, ich stelle sie mir auch jeden Tag.
Ein paar Beispiele, die im ganz kleinen beginnen, wirklich im absolut alltäglichen und erstmal als gar nichts Großes erscheinen, wären z.B. bestimmte Tätigkeitszuschreibungen aufzulockern – es geht ja um Botschaften, ob verdeckt oder explizit, die vermittelt werden durch unser sein, unsere Performance.
In der Kita achte ich u. vielem anderen darauf, dass es sich nicht einbürgert, dass immer der Praktikant mit den Kindern Fußball spielt, sondern durchaus auch ich, das ich bei Mädchen* nicht sanft rede und bei Jungen* laut, dass ich bei Mädchen* nicht “schick” rufe und bei Jungen “cool”, dass ich mir um Mädchen* beim Klettern und Toben nicht mehr Sorgen mache, als bei Jungen*, ihnen also wirklich dieselben körperlichen Erfahrungen ermögliche, auch aggressive und kompetitive.
Ein anderes Beispiel wäre, dass ein Papa(!) nicht (unbewusst) oft fürs Rausgehen, Toben, Fahrradfahren lernen etc. zuständig ist und die Mama(!) für das warme Zuhause, kochen, waschen etc., dass Papas auch mal Röcke und Kleider tragen, wenn, aber nicht nur wenn, ihre Söhne* es auch möchten bzw. um ihren Söhnen* dies innerhalb der bunten Pallette geschlechtssensibel anzubieten und vorzuleben.
Rosa und Glitzer für alle eben.
Weiter gehts: Dass ich mir definitiv mein Kinderbuchregal vornehme und Bücher mit Diversity Inhalt zulege. Dass ich klassische Bücher wie Märchen, spontan anders erzähle (Prinz und Prinz, Prinzessin und Prinzessin lebten auch glücklich bis an ihr Ende), dass ich Bücher nicht einfach so vorlese, sondern mit Kindern über Inhalte und das Leben philosophiere, dass ich Zivilcourage vorlebe und mit ihnen Zivilcourage entwickele (was ist ungerecht, haben wir eine Stimme, die wir erheben können, wie konkret).
Dass ich mich in meiner Hetenperformance reflektiere und sie im Sinne einer critical hetness aufbreche, also das Kleinfamilienidyll nicht extra sichtbar perfome, sondern vielleicht einfach auch mal gleichgeschlechtlich auf den Markt, oder den Spielplatz gehe, auch gleichgeschlechtliche Zärtlichkeiten (Umarmungen, Händehalten) zeige, dass Papa(!) mit der Tochter* Shoppen geht oder später mal ins Kosmetikstudio und Mama(!) mit der den Kindern ins Fußballstadion.
Es gibt vieles, was wir verändern können, es kommt uns zunächst evtl. fremd vor, weil wir in diesen Strukturen herangezogen wurden und vielleicht denken viele zuerst: aber das macht mir doch gar keinen Spaß, warum soll ich das jetzt extra machen, das wäre doch unathentisch. Ich frage mich eher: ist das, was wir leben, unsere Rolle authetisch oder haben wir sie erlernt und kennen sie eben nicht anders. Ich kann auch wieder verlernen und mir neue Farben, Verhaltensweisen und Eigenschaften aus der Palette herausnehmen und in mein Selbstbild integrieren.
ja, sich selber kritisch beobachten und dann im fall des falles dinge dem kind extra umgekehrt vorleben, das finde ich auch wichtig und deine aufzählung gute beispiele. sprache ist da ein ganz wichtiges instrument, denke ich auch. ich hatte mit meinem “wie” eigentlich auch noch auf ein “darüber hinaus” abgezielt. was du unter “critical hetness” vorschlägst, geht in diese richtung. ich zB vermeide die performance eines kleinfamilienidylls (eigentlich aus anderen gründen) ohnehin soweit es geht – mann-frau-kind wird aber vermutlich in den meisten kontexten trotzdem so gelesen. ich erinnere mich an einen vorschlag bei feministmum.wordpress.com, dem kind gegenüber leute eben als “leute” oder “menschen” (und nicht mann oder frau) zu beschreiben – so dass das kind im besten fall nicht vater-mutter-kind liest, sondern eben 2 erwachsene menschen und 1 kind.
schwer fällt mir bei all dem zB das in einer heteronormativen gesellschaft übliche umzudrehen. als bsp.: wenn ein bub und ein mädchen gerne gemeinsam spielen, dauert es nicht lange und es wird von irgendwoher gemeint, “ach, süß, die zwei sind verliebt”. jetzt könnte ich das umdrehen und dann zu zwei mädchen/zwei buben, die gerne miteinander spielen sagen: “ach, süß, die sind verliebt”. aber eigentlich will ich dieses “verliebt” und alles was damit einhergeht nicht für kinder, die miteinander spielen, verwenden.
Sorry, meine Antwort ging als neues comment raus…
Da stimme ich dir voll und ganz zu.
Zum einen finde ich eine reflektierte Sprache unheimlich wichtig. Kinder werden ja von beginn an gelabelt, dabei sind es zuerst einmal Kinder und wir sind alle zuerst einmal Menschen, Personen, Leute, nicht Frauen, Männer, Väter, Mütter. Oft wird es jedoch als unangenehm oder “nicht warm” angesehen, sich vom Kind z.B. mit dem Vornamen ansprechen zu lassen (was a auch wieder eine Angst ist, aus der Rolle zu fallen, weil warum sind Elternschaften, die nicht traditionell funktionieren, etwa Co-Elternschaften, kälter oder weniger warm?), es werden direkt diese Strukturen vorgelebt und vorgegeben.
Das mit den romantischen Zuschreibungen beobachte ich auch oft. Bei kleinen Jungen* wird dann gesagt: “Haha, der hat schon alle Mädchen um den Finger gewickelt” oder “Charmeur”, bei Mädchen heisst es gegebenenfalls “Na, flirtest du wieder mit (random)?”, ja und dieses ständige “Na, ob die mal nicht heiraten”… klar. Da wäre es eigentlich auch spannend, rein provokativ, genau solche Standardsätze in Standardsituationen, eben nonkonform zu platzieren – eine kleine Verstörung einerseits, andererseits auch inklusiv denkend und handelnd. Vielleicht lässt sich so etwas ja einbringen, wenn es (in der Familie etc.) thematisiert wird, als kleine Intervention, ich selbst würde auch ungern Kinder das verlieben etc. zuschreiben wollen.