von Catherine
Umay kann nicht mehr. Gemeinsam mit ihrem Sohn verlässt sie ihren gewalttätigen Ehemann Kemal, mit dem sie bislang in dessen Elternhaus irgendwo in der Türkei gelebt hat, und kehrt zurück zu ihrer Familie nach Berlin. Dort wird sie zunächst freudig empfangen; Mutter, Schwester und kleiner Bruder sind entzückt, Umay und den fünfjährigen Cem bei sich zu haben. Die Freude aber trübt sich, als klar wird, dass Umay nicht vorhat, zu Kemal zurückzukehren, sondern in Berlin bleiben und dort ohne ihren Mann leben und arbeiten möchte. Vor allem Umays Vater und ihr älterer Bruder setzen sich vehement und mit immer brutaleren Methoden dafür ein, dass Umay als gute Frau zu ihrer richtigen Familie – der des Ehemannes – zurückkehrt. Als sie sich weigert, beginnt die Familie immer weiter auseinanderzudriften und ist, am Ende, zerrissen und kaputt.
Die Fremde erzählt eine Geschichte über den Kampf einer einzelnen gegen ein Wertegerüst und zeigt, wie dieses Wertegerüst alle erdrückt. Umay stellt ihren Wunsch, glücklich und in Sicherheit mit ihrem Sohn zu leben, über den gemeinschaftlich formulierten Imperativ, der von ihr verlangt, eine gute, also fügsame, Ehefrau zu sein.
Umay wird nicht als Übermutter stilisiert oder als Rebellin. Sie möchte frei sein, sie will gut für ihren Sohn sorgen und sie will ein Teil ihrer Familie bleiben. Sie bricht nicht aus und alle Brücken ab, sie will keine Ausreißerin sein. Wie im Fall der Hauptfigur gelingt es dem Film in den meisten Fällen, vielschichtige Charaktere zu zeigen, die stumpfen, stereotypen Zuschreibungen trotzen und selten Klischees reproduzieren, die die sogenannte Mehrheitsgesellschaft so gerne von türkischen Migrant_innen hat. Gleichzeitig wird eindrücklich gezeigt, wie starre Normen und Konventionen ganz konkret zwischenmenschliche Beziehungen zerstören, Menschen in Rollen zwingen und Freundlichkeit, Liebe und Offenheit darin keine Chance haben. Etwa dann, wenn Umay gegen den Willen ihrer Eltern die Hochzeit der eigenen Schwester besucht und vor den versammelten Gästen unter Tränen darum bittet, dass doch wenigstens ihr Sohn Cem als Familienmitglied angesehen werden soll, weil er seine Familie braucht, nur um dann von ihrem Bruder aus dem Raum geschleift und mit Ohrfeigen und Schlägen weggeschickt zu werden.
Dass es nicht allen so leicht fällt mit der Verdammung Umays und dass der Film dies mit seinen ruhigen und unaufgeregten Bildern und sparsamen, oft auf türkisch geführten Dialogen zeigt, macht die Fremde zu einem sehr berührenden Film. Die Mutter, Umays kleiner Bruder und ganz offensichtlich auch der Vater leiden unter dem Konflikt mit Umay und auch darunter, wie sie mit ihm umzugehen haben. Die Konventionen, denen sie dabei folgen, stellen sie allerdings nicht in Frage, für sie ist allein Umay verantwortlich für die Misere aller. Und so entfaltet sich in in knapp zwei Stunden eine mitreissende Tragödie mit Ansage. Egal, wie freundlich Umay ist, egal, wie sehr sie an die Liebe ihrer Eltern appelliert, egal, wie oft sie die alten Zeiten heraufbeschwört, in denen sie sich um ihre jüngeren Geschwister gekümmert hat: Sie hat einen Fehler gemacht in den Augen ihrer Gemeinschaft und dieser Fehler muss korrigiert werden, damit das große Ganze, das Wertesystem bestehen bleiben kann.
Die Fremde. Deutschland 2010. Regie: Feo Aladag. Mit: Sibel Kekilli, Settar Tanrıöğen, Derya Alabora Alwara Höfels, Nursel Köse. FSK: 12